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Felsiger Mikrokosmos des Europa-Projekts

Von WZ-Korrespondentin Maren Häußermann

Politik
Afrika (im Nebel links) und Spanien (rechts) in Gibraltars Blick.

Das Überseeterritorium Gibraltar bereitet sich auf einen Konflikt vor, sollte es zum Brexit kommen.


Madrid/London. Steil ragt der Felsen im Süden der Iberischen Halbinsel, zwischen Europa und Afrika in den Himmel. In unregelmäßigen Abständen sind Öffnungen in dem weißen Steilhang zu erkennen. Der Felsen ist hohl. In Form von Tunneln haben sich die Gibraltarer über die Jahrhunderte eine Festung in den Berg gebaut, um sich gegen Angriffe verteidigen zu können. Vor allem an der nördlichen Seite. Dort, wo Spanien beginnt.

Gibraltar gehört zu Großbritannien. "Britannien mit Sonne", wird das Überseeterritorium scherzhaft genannt. Mit 96 Prozent haben die knapp 35.000 Einwohner für einen Verbleib in der EU gestimmt. Das Brexit-Ergebnis kam als ein Schock für sie.

"Die Straßen waren leer. Es war, als wäre jemand aus der Familie gestorben. Es gab kein Lachen und keine Musik. Man konnte die Angst und die Trauer in der Luft spüren", schildert Ancy Fernandes den Tag des Referendums. Sie sitzt auf der Terrasse ihres Restaurants, wo es indisches Essen und Sushi gibt. Im Minutentakt begrüßt sie vorbeispazierende Bekannte mit einem strahlenden Lächeln.

Gibraltar liegt strategisch günstig am Mittelmeer und am Atlantik. 100.000 Schiffe kommen hier laut Joseph Garcia, dem stellvertretenden Hauptminister Gibraltars, jährlich vorbei, auf ihrem Weg nach Europa, Asien, Australien oder in die andere Richtung, nach Amerika oder Großbritannien.

Flugzeug im Anflug auf der maritimen Landebahn.

Diese strategische Lage ist sicher ein Hauptgrund, weshalb das Vereinigte Königreich das Land verteidigt und Spanien den Anspruch darauf erhebt. Seit über 300 Jahren. Die Gibraltarer befinden sich im Zentrum dieses Konflikts, der mit einem Österreicher begann.

Spanischer Erbfolgekrieg ordnete die Landkarte neu

Als Karl II., der letzte spanische Habsburger, im Jahr 1700 stirbt, weiß er nicht, was er angerichtet hat. Er weiß nicht, dass seine Entscheidung, im letzten Moment einen Franzosen zum Thronfolger zu erklären, zum Erbfolgekrieg führen wird. Oder, dass die Briten im Zuge dessen in Besitz eines Felsens im Süden der Iberischen Halbinsel kommen. Oder, dass das zu einem Konflikt führt, der auch 2019 noch die Politik auf diesem kleinen Flecken Erde bewegt.

August 1704. Ein neuer Tag bricht an. Man hört die Möwen und wie die Wellen des Mittelmeeres am Felsen brechen. Dann beginnen die Kanonschüsse. Bis zu 15.000 Kugeln treffen Gibraltar in dieser Nacht. Im Hafen explodiert ein Pulverlager und tötet 40 Angreifer. Das ist das Einzige, was die paar hundert spärlich ausgerüsteten Spanier zu ihrer Verteidigung tun können. Nach sechsstündigem Bombardement ergeben sie sich. Spanien verliert an diesem Morgen Gibraltar an Österreich.

Als Karl II. Philipp von Anjou als seinen Erben einsetzt, ist man nicht nur in Wien unzufrieden, auch andere europäische Großmächte fürchteten sich vor einer Übermacht Frankreichs. Deshalb kämpfen gegen die Spanier und Franzosen auf der einen Seite gemeinsam mit den Habsburgern auf der anderen Seite auch Holland, Portugal und Großbritannien.

Nur einen Fußmarsch entfernt: Hier geht es über die Grenze.

Der Krieg endet, als Karl VI. seinen verstorbenen Bruder als römisch-deutschen Kaiser und Erzherzog von Österreich ersetzen muss. Ohne Gegenkandidat wird Philipp von Anjou als spanischer König akzeptiert, Großbritannien bekommt im Gegenzug die Herrschaft über 6,5 Quadratkilometer große Gebiet. Das sind 650 Hektar. Zum Vergleich: Das Fürstentum Monaco kommt auf nur 205 Hektar.

Die Grenze wurde 1967 auf Jahre hinweg geschlossen

Immer wieder versuchen die Spanier, das Land zurückzubekommen. Immer wieder scheitern sie dabei militärisch. Als die Gibraltarer sich in einem Referendum 1967 mit 99 Prozent dafür aussprechen, unter britischer Souveränität zu bleiben, schließt Spanien die Grenze.

Der Kontakt zur Außenwelt bricht für 15 Jahren ab, es gibt kein frisches Gemüse, Fleisch oder Milch. Familien werden auseinandergerissen. Vom nur wenige Meter entfernten Spanien fühlen sich die Gibraltarer so weit entfernt wie von Kanada.

"Ich weiß noch, wie wir mit der Fähre nach Afrika und von dort nach Spanien gefahren sind und dann einmal die Küste entlang. Irgendwann habe ich meine Eltern gefragt, warum wir schon den ganzen Tag unterwegs sind und ich immer noch unser Haus sehen kann", erzählt der Architekt Carl Viagas.

Britannien der Sonne: Gibraltar hat knapp 35.000 Einwohner.

Diese Erfahrung hat ihn geprägt. Genauso wie die anderen Gibraltarer. Deshalb besteht auch 2019 die Sorge, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Im europäischen Rahmen war die Beziehung zu Spanien zwar weiter schwierig, aber friedlich. Jeden Tag überqueren um die 10.000 Spanier die Grenze, um in Gibraltar zu arbeiten. Daneben auch Slowaken, Ungarn, Italiener.

Als Reaktion auf den Brexit hat Spanien sofort seine Ansprüche erneuert. Das Nachbarland habe damals die Grenze nur geöffnet, weil es eine Beitrittsbedingung zur EU war, sagt Garcia, der als Minister für die Brexit-Angelegenheiten zuständig ist. Was wird der Brexit im Umkehrschluss mit sich bringen? Man weiß schon nicht, was es für Nordirland bedeutet. Geschweige denn für Gibraltar. "Was passieren wird? Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage," sagt Garcia.

Zumindest brauchen die Gibraltarer ein geregeltes Brexit-Abkommen, einen sicheren Austritt. Denn natürlich werden sie mit Großbritannien austreten. Die Gibraltarer sind länger britisch, als die Amerikaner amerikanisch sind. Sie respektieren die demokratische Entscheidung ihres Landes, auch wenn, wie Garcia sagt, die Leute in Großbritannien sich wohl nicht vorstellen können, wie es ist, verschiedene Identitäten zu haben, in einem "Mikrokosmos des europäischen Projekts" zu leben.

"Wir sind stolz darauf, britisch zu sein", sagt Fernandes, "aber sind die Briten auch stolz, uns zu haben? Und falls ja, warum haben sie unsere Probleme nicht berücksichtigt? Wir haben hier niemand anderen. Nur Meer und Afrika."

Tatsächlich sieht der Notfallplan so aus, dass man lebt wie zu Zeiten der geschlossenen Grenze: Kranke werden auf Kosten der gibraltarischen Regierung ins Vereinigte Königreich geflogen, die Versorgung läuft über See und Luft. Arbeitskräfte kommen aus Marokko. Dieses Szenario bevorzugen die Gibraltarer gegenüber einer geteilten Souveränität mit Spanien, was ebenfalls als Option auf dem Tisch lag.

Der bekannte Affenfelsen, Wahrzeichen von Gibraltar.
© Häußermann

Zweitgrößter Arbeitgeber in der Region Andalusien

Auch für die Spanier ist die Aussicht düster. Laut Garcia ist Gibraltar der zweitgrößte Arbeitgeber der Region Andalusien, nach der eigenen Regierung. Auch die Spanier mussten Ende der Sechzigerjahre spontan auf die eigene Politik reagieren. Und auch auf persönlicher Ebene war es schwierig, denn die Beziehungen zwischen den Menschen auf beiden Seiten der Grenze sind eng. Das Problem sind die Politiker in London und Madrid.

Hätte der letzte spanische Habsburger, Karl II., seinen Thron an den österreichischen Kandidaten vererbt, wäre Gibraltar spanisch geblieben, schreibt der Schriftsteller Manuel Leguineche. So aber geht der 300 Jahre alte Streit um einen kleinen Felsen im Süden der Iberischen Halbinsel auch im Jahr 2019 weiter.