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Die gescheiterte Revolution

Von Siobhán Geets

Politik

Die neue Strategie der Rechten, die EU nicht mehr zerstören, sondern verändern zu wollen, sei nicht mehr als eine Taktik zum Stimmenfang, sagt Stefan Lehne. Dass sie sich in einer einzigen Fraktion vereinen können, glaubt der Experte nicht.


"Wiener Zeitung": Im Vorfeld der EU-Wahlen war von einem möglichen Erdrutschsieg der Rechtspopulisten die Rede. Der ist ausgeblieben.

Stefan Lehne: Vor den EU-Wahlen haben sie den Mund sehr voll genommen. Italiens Innenminister, Lega-Chef Matteo Salvini, sagte, sie werden mindestens die zweitgrößte Fraktion werden und dass er die Geschichte Europas verändert wird. Frankreichs Marine Le Pen sprach von einer Revolution, Ungarns Viktor Orban meinte, dass sie die Pro-Migrations-Mehrheit im EU-Parlament kappen werden. Gemessen an diesen Ansprüchen war das Ergebnis dürftig.

Kann man dennoch von einem Trend sprechen? Rechtsextreme und Rechtspopulistische Parteien haben ja nicht nur im EU-Parlament, sondern auch bei nationalen Wahlen in den Mitgliedstaaten dazugewonnen.

In den vergangenen 20 Jahren haben die Rechtspopulisten ihren Stimmanteil verdreifacht. Dieser Trend hat sich in manchen Ländern bestätigt. In anderen haben diese Parteien viel schlechter abgeschnitten als erwartet. Einen klaren Sieg gab es in Italien und in Ungarn, in Polen hat die PiS stark abgeschnitten. In Frankreich konnte Le Pen Präsident Emmanuel Macron knapp schlagen, und in Großbritannien hat die Brexit-Partei von Nigel Farage massiv gut abgeschnitten. In den nordischen Staaten ist der Rechtspopulismus hingegen nicht stärker geworden. Insgesamt war das Wichtigste an den Wahlen der Verlust der gemeinsamen Mehrheit der Sozialdemokraten und der konservativen EVP. Davon haben Liberale und grüne Parteien ebenso profitiert. Dass der Trend nicht eindeutig zum rechten Rand gegangen ist, sondern eben auch in Richtung Grüne und Liberale, hat überrascht.

Welche Ursachen gibt es für den Trend in Richtung Rechts?

Da ist einerseits die Gegenreaktion auf die Globalisierung: Die Staaten haben zu wenig getan, um Globalisierungsverlierer mitzunehmen. Es gibt in Europa, aber auch in Nordamerika große Regionen, die vormals industrialisiert waren, wo die Fabriken dann geschlossen und nach China übersiedelt wurden. Für die Betroffenen wurde nichts getan. Ein weiterer Faktor ist ein Verlust der kollektiven Identitäten der traditionellen Gesellschaften. Anonymisierung und Individualisierung schaden dem Vertrauen in die Politiker. Der Respekt vor Politikern ist zurückgegangen, die Menschen sind weniger autoritätsgläubig, sie mobilisieren auf Facebook und verlassen sich nicht mehr auf traditionelle Repräsentationssysteme. In ihren Social-Media-Blasen nehmen die Menschen nur auf, was sie ohnehin schon glauben. In Europa haben Wirtschafts- und Migrationskrise als Brandverstärker gewirkt.

Facebook hilft Populisten bei der Verbreitung ihrer Botschaften. Europas Rechtspopulisten haben sich vor den Wahlen mit Gleichgesinnten präsentiert. HC Strache hat vor den EU-Wahlen Le Pen und Salvini getroffen, es gab einen transnationalen Wahlkampf. Ist das eine neue Strategie: Weg vom EU-Austritt, hin zur Zusammenarbeit im Sinne eines neuen Europas?

Ja. Früher wollten diese Parteien aus der EU raus und sie zerstören. Aber die Schocks des Brexit-Referendums und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben die Attraktivität dieser Optionen massiv verringert. Le Pen hat im französischen Präsidentschaftswahlkampf bemerkt, dass sie mit ihrer Idee eines Referendums stark verliert. Deshalb haben die meisten dieser Parteien ihre Taktik geändert: Sie sprechen nicht mehr vom EU-Austritt, sondern wollen sie von innen verändern. Das ist lediglich eine Taktik, denn letztlich sind sie, wie sie immer waren: Sie wurden nicht bekehrt, sondern haben nur begriffen, dass sie mit dem alten Programm Wahlen verlieren.

Im EU-Parlament waren Rechtsextreme und Rechtspopulisten in vier Fraktionen aufgeteilt, Salvini will nun eine große Rechtsfraktion auf die Beine stellen. Kann das gelingen? Können Nationalisten überhaupt zusammenarbeiten?

Vorrangig ist nun, eine gewisse Konsolidierung zu erreichen. Salvini hat von einer "League of Leagues" gesprochen, er will alle zusammenbringen. Das ist wichtig, weil der reale Einfluss im EU-Parlament von der Größe der Gruppe abhängt. Das betrifft die finanzielle Unterstützung, Rederechte und die Funktionen, die man besetzen kann. Die jetzige Zersplitterung soll deshalb überwunden werden, aber die Chancen für eine einzige Gruppe stehen nicht besonders gut. Wahrscheinlicher sind zwei Fraktionen: Salvinis rechtspopulistische Fraktion und eine Nachfolgefraktion der EKR (Europäische Konservative und Reformer), in der die PiS wahrscheinlich stärkste Kraft wird. Das sind EU-Skeptiker, die weniger radikal sind und seriöser auftreten als Salvinis Rechtspopulisten. Spannend wird, wohin Viktor Orban mit Fidesz geht. Er würde wohl gern in der EVP bleiben. Wenn das nicht klappt, wird er sich wahrscheinlich eher mit der PiS verbünden als mit der Lega.

Kann Salvinis Fraktion, der auch die FPÖ angehören soll, eine ganze Legislaturperiode bestehen? Immerhin gibt es viele Differenzen.

Die Fraktionen im EU-Parlament sind ideologisch nicht gerade geeint, das betrifft auch die EVP und die Sozialdemokraten, wo es unterschiedliche Strömungen gibt. Doch das Interesse zusammenzubleiben, um die Vorteile zu genießen, ist sehr groß. Im Laufe einer fünfjährigen Legislaturperiode gibt es immer wieder Absplitterungen und Überläufer.

Alle sprechen über das EU-Parlament, aber liegt die Zukunft der EU nicht mehr in den Mitgliedstaaten, die mit dem Rat der Staats- und Regierungschefs ein viel mächtigeres Gremium haben? Das EU-Parlament hat nicht einmal ein Initiativrecht.

Letztlich ist das nicht so entscheidend. Wenn sich das Parlament etwas wirklich wünscht, dann wird die EU-Kommission die Initiative ergreifen. Es ist paradox, dass die Mitgliedstaaten sehr großzügig darin waren, dem Parlament wichtige Kompetenzen wie etwa erhebliche Kontrollrechte im Budgetbereich zu geben, aber nicht bereit waren, den Wahlprozess zu europäisieren. Transnationale Listen und eine gemeinsame Gesetzgebung für das europäische Wahlrecht haben sie blockiert. Das führt dazu, dass das Spitzenkandidatenkonzept in der Luft hängt: In Österreich hat niemand ein Interesse daran, dass der Sozialdemokrat Frans Timmermans eine große Rolle spielt.

Was glauben Sie: Wer wird Präsident der EU-Kommission?

Das ist ein komplexer Prozess auf mehreren Ebenen, da lassen sich schwer Prognosen abgeben. Es ist interessant, dass Macron so sehr gegen Manfred Weber mobilisiert. Sein europäisches Konzept ist mit einem Kommissionspräsidenten Weber nicht vereinbar. Macron wird sich sehr stark dafür einsetzen, dass jemand anderer zum Zug kommt.

Hat Macrons Favoritin, die liberale EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, reelle Chance?

Das kommt darauf an, ob die Deutschen Vestager akzeptieren. Es geht insgesamt um sechs EU-Spitzenposten, das muss austariert werden: Wenn etwa ein Liberaler Präsident der Kommission wird, kann ein Konservativer Donald Tusk als Chef des Europäischen Rates beerben. Das lässt sich schwer voraussehen. Ich glaube aber nicht, dass Weber gute Chancen hat.

Die "Ever Closer Union" scheint gescheitert, es geht nur noch darum, die EU zusammenzuhalten. Was ist in der kommenden Legislaturperiode überhaupt möglich an Reformen?

Vertragsreformen sind heute kaum noch möglich. Man müsste mit einer Menge Referenden rechnen, von denen sicher einige schief gehen würden. Auch die Ratifizierungen in den nationalen Parlamenten sind schwieriger geworden. Obwohl Merkel, Macron und auch Kurz immer wieder von Vertragsreformen sprechen: Das muss sehr gründlich vorbereitet werden. Eine fundamentale und umfassende Reform sehe ich als schwierig an. Die Währungsunion etwa ist nicht krisenfest. Sie hat sich zwar verbessert, aber die Reformen waren nicht ausreichend - und die nächste Krise kommt bestimmt. Erst dann wird man die nächsten Schritte schaffen. Die Alternative ist eine riesige Wirtschaftskrise in Europa: Zerbricht die Währungsunion, dann ist das ein Riesenproblem. Bei Schengen sehe ich umgekehrt, dass die nächste Krise dieses Abkommen zur Abschaffung von Grenzkontrollen in der EU zerstören wird oder dazu führt, dass man etwas Neues, Kleineres schafft.

Ein Kerneuropa?

Schengen, wie es heute besteht, wäre damit verloren, doch die Spaltungen sind einfach zu groß. Jeder Staat darf nationale Schritte setzen und etwa Zäune bauen. Da bin ich also skeptisch. Der Klimawandel könnte die Schubkraft für eine große Reform zusammenbringen. Das liegt an der Dringlichkeit und Notwendigkeit. Immer mehr Staaten verstehen, dass alleine handeln keine Alternative ist. Hier erwarte ich am ehesten, dass die nächste EU-Kommission einen klaren Fokus setzt und eine kritische Masse an Reformwillen zustande bringt.