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EU-Topjobs: Was im Hinterzimmer verhandelt wird

Von Siobhán Geets

Politik

Im Strategiespiel um die Besetzung der EU-Spitzenposten sollen bald Gewinner feststehen. Der Vorgang ist hochkomplex, alle wollen mitmischen.


Brüssel/Wien. Am 31. Oktober soll nicht nur das Vereinigte Königreich aus der EU austreten. Läuft alles nach Plan, dann ist Halloween auch der letzte Arbeitstag Jean-Claude Junckers als Präsident der EU-Kommission. Über die Frage, wer dem Luxemburger Konservativen nachfolgt, wird viel spekuliert. Eigentlich sollte es der Spitzenkandidat der stimmenstärksten europäischen Parteienfamilie sein. Doch das Konzept wackelt. Im Europaparlament haben Sozialdemokraten, Liberale und Grüne zusammen 324 Mandate - und wollen das Monopol der Europäischen Volkspartei (EVP) brechen.

Auch der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, wollen sich nicht an das System halten - und einen eigenen Kandidaten vorschlagen.

Kleine Fraktionen als Zünglein an der Waage

Zwar ist die EVP erneut als stärkste Kraft aus den Europawahlen hervorgegangen. Doch die Verluste sind herb, 42 Sitze haben die Konservativen eingebüßt. Gegen Spitzenkandidat Manfred Weber spricht zudem, dass er als profillos gilt. Der CSU-Politiker ist selbst in Deutschland vielen unbekannt, auch hat er nie eine Regierung angeführt. Sein sozialdemokratischer Kontrahent Frans Timmermans ist immerhin Vizepräsident der EU-Kommission, doch auch seine Fraktion hat 38 Mandate verloren.

Nach den Europawahlen verfügen die beiden großen Parteienfamilien erstmals über keine gemeinsame Mehrheit mehr: Die Zeit, in der sich EVP und Sozialdemokraten die Verteilung der Spitzenposten unter sich ausmachten, ist vorbei. Davon profiteren kleinere Fraktionen wie die Grünen, die eine größere Rolle bei der Konsensfindung spielen.

Die lachende Dritte könnte Margrethe Vestager sein. Die Dänin ist für die liberale Alde-Fraktion angetreten, die immerhin 38 Sitze dazugewonnen hat. Der Respekt für die 51-Jährige ist auch außerhalb Europas groß, schließlich war sie mutig genug, sich mit Wirtschaftsgiganten wie Google und Apple anzulegen. In ihrer Rolle als Wettbewerbskommissarin wurde sie zum Polit-Star, in Dänemark war sie die jüngste Ministerin aller Zeiten. Um Junckers Erbe anzutreten, braucht die Liberale die Unterstützung der Sozialdemokraten, der Grünen und der Linken im Europaparlament.

Doch es geht nicht nur um die Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus. Die Besetzung der Brüsseler Spitzenposten ist wie eine Partie 3D-Schach - ein Strategiespiel auf mehreren Ebenen, bei dem alle mitmischen wollen: Parteien, Mitgliedstaaten und Europaparlament. Auch die geografische Ausgewogenheit und die Berücksichtigung von Geschlechterverhältnissen spielen eine Rolle.

Zunächst schlägt der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, einen Kandidaten für den Posten des Kommissionschefs vor: Mindestens 21 der 28 EU-Länder müssen hinter ihm stehen. Das Europaparlament muss den Kandidaten dann noch mit einfacher Mehrheit bestätigen - das sind mindestens 376 Abgeordnete.

Neben dem Kommissionschef müssen auch die Ämter des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), des Ratspräsidenten, des EU-Außenbeauftragten und des Präsidenten des Europaparlaments neu besetzt werden. Die deutsche CDU hätte gern Bundesbank-Chef Jens Weidmann an der Spitze der EZB. Wird der Volkswirt Nachfolger Mario Draghis, dann hat kein zweiter Deutscher Chancen auf den Posten des Kommissionschefs.

Denkbar ist deshalb auch, dass die EVP noch einen Alternativkandidaten präsentiert, der nicht aus Deutschland kommt. Offiziell halten die Konservativen zwar an Weber fest, doch Michel Barnier ist jederzeit bereit zum Sprung ins Rampenlicht. Der EU-Chefverhandler für den Brexit hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht - und die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten im Streit mit London um den Brexit zusammengehalten. Gegen ihn könnte wohl auch Emmanuel Macron nicht viel sagen - immerhin ist Barnier Franzose.

Noch lieber sähe Frankreichs Präsident aber Alde-Kandidatin Vestager an der Spitze der EU-Kommission. Um Weber als deren Chef zu verhindern, hat sich Macron mit den Liberalen im Europaparlament zu einer Mitte-Links-Bewegung zusammengetan. Auch der spanische Premier Pedro Sanchez hat sich dieser proeuropäischen Allianz angeschlossen.

Liberale und Sozialdemokraten haben die Mehrheit im Rat

Im Rat haben die Liberalen die meisten Vertreter, gemeinsam mit den Sozialdemokraten stellen sie 15 von 28 Regierungschefs. Lediglich acht Mitgliedstaaten werden von Konservativen angeführt. Damit schwinden Webers Chancen.

Bindend ist das Konzept der Spitzenkandidaten ohnehin nicht, zum Einsatz kam es bisher nur ein Mal: Nach den Europawahlen von 2014 wurde EVP-Spitzenkandidat Juncker Kommissionschef, der Zweitplatzierte, Sozialdemokrat Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments. Mit der Idee der Spitzenkandidaten wollten die Abgeordneten die EU demokratischer gestalten - und dem Gefühl vieler EU-Bürger entgegenwirken, dass wichtige Entscheidungen in Brüsseler Hinterzimmern getroffen werden.

Verfahren hinter verschlossenen Türen

Auch der scheidende Kommissionschef verteidigt das Spitzenkandidatenprinzip als "winzigen demokratischen Fortschritt", der nicht zurückgedreht werden dürfe. Nun drohe wieder ein Verfahren hinter verschlossenen Türen, warnte Juncker am Dienstag im Interview mit der Nachrichtenplattform "Politico": "Man läuft jetzt Gefahr, wieder in die Zeiten der Dunkelkammer zurückzukehren, wo die Regierungschefs untereinander besprechen, wer das werden soll."

Dass der Spitzenkandidaten-Prozess "eine Wiedergeburt erlebt", wie Juncker hofft, ist unwahrscheinlich. Kaum waren die Europawahlen geschlagen, trafen sich die Regierungschefs, um über die Besetzung der Spitzenposten zu beraten.

Bereits beim Gipfel kommende Woche könnten sie einen Kandidaten vorschlagen. Gut möglich, dass es am Ende jemand wird, über den bisher niemand offen spekuliert hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass im letzten Moment ein Kompromisskandidat auftaucht, mit dem keiner gerechnet hat.

Wissen~ Die EU-Kommission ist so etwas wie die Regierung der Europäischen Union: Sie bringt Richtlinien und Verordnungen auf den Weg, die für mehr als 500 Millionen Bürger gelten. Rund 35.000 Mitarbeiter aus 28 Mitgliedsländern arbeiten für die Institution. Jeder Mitgliedstaat schickt einen Kommissar für ein Ressort. Aktuell sind nicht einmal ein Drittel davon Frauen.