Orbán-Vertraute: "Kein Held"
Seine Leiche war erst im Gefängnishof verscharrt und 1961 unter falschem Namen auf einem Friedhof beerdigt worden. Seine Rehabilitierung durch die Umbettung 1989, begleitet von einer Zeremonie am Budapester Heldenplatz unter Beteiligung hunderttausender Ungarn, war das Schlüsselerlebnis, das den Massen die Auflösung des kommunistischen Systems signalisierte. Bei diesem Akt betrat übrigens auch erstmals Viktor Orbán die große Bühne. Der Politiker des damals noch liberalen Fidesz (Bund Junger Demokraten) hielt am Heldenplatz seine berühmte Rede, in der er den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn verlangte.
Ebenso wie die Grenzöffnung von 1989 ist auch Nagy kein angenehmes Thema für die Orbán-Regierung.
Den Ton für die Neuinterpretation der Geschichte gab Orbáns Beraterin und Propagandistin Mária Schmidt 2016 an, als sie erklärte, Nagy sei "kein Held" gewesen, sondern ein kommunistischer Politiker, der den Ereignissen "hinterher geschlendert" sei und außerdem als Innenminister für das repressive Regime mitverantwortlich gewesen sei. Heruntergespielt wird damit das Faktum, dass ein überzeugter Leninist wie Nagy damals den ungeheuren Mut besessen hat, ein Mehrparteiensystem und den Austritt aus dem Warschauer Pakt zu verlangen. Aus Schmidts Sicht waren die damaligen Straßenkämpfer die einzigen Helden. Im vergangenen Jahr ließ die von Orbáns Partei regierte Stadt Budapest das Nagy-Denkmal aus der Nähe des Parlaments entfernen.
"Orbáns Regierung ist dabei, die Geschichte umzuschreiben", sagt Péter Balázs. Er rechnet nicht damit, dass die Regierung die Grenzöffnung von 1989 groß feiern wird. Nicht nur, weil der neue Grenzzaun gegen Flüchtlinge die Propaganda dominiert, sondern auch, weil die Ereignisse von damals das Werk der Wendekommunisten waren. Allenfalls eine Etappe der Ereignisse - das sogenannte Paneuropäische Picknick vom 19. August 1989 - komme für Orbán als Grund zum Feiern in Frage, weil dieser Akt auf eine Initiative der Paneuropa-Union von Otto Habsburg und oppositionellen ungarischen Aktivisten zurückgeht. Dass damals auch die kommunistische Regierung unter Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Horn ihre Rolle hatten, dürfte die heutige Regierung herunterspielen.
Ein Picknick als Testlauf
Das "Picknick" war offiziell als zwangloses Treffen von Ungarn und Österreichern geplant gewesen, mit einer dreistündigen Grenzöffnung. Hunderte DDR-Bürger nutzten diese zur Flucht nach Österreich. Ohne das von oben verordnete Wegschauen der ungarischen Grenzschützer hätte der Akt blutig ausgehen können. Wie Németh 2014 der ungarischen Zeitschrift HVG erzählte, war dieses "Picknick" der "letzte Test", um herauszufinden, wie Moskau auf Ungarns Umgang mit den DDR-Bürgern reagieren würde, die zu dem Zeitpunkt massenhaft nach Ungarn gekommen waren, mit dem Ziel, in den Westen zu gelangen. Es war der letzte Test vor der endgültigen Grenzöffnung in der Nacht vom 10. aufden 11. September 1989.