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"Die erste Grenzöffnung haben alle verschlafen"

Von Mathias Ziegler

Politik
Bei Mörbisch fotografierte Holzner einen DDR-Bürger, der nur mit einem Sackerl über die Grenze flüchtete.
© www.hopi-media.at/Holzner

Pressefotograf Bernhard Holzner erzählt die Entstehungsgeschichte des berühmten Zaunbildes mit Alois Mock und Gyula Horn vom 27. Juni 1989 und räumt mit medialen Mythen auf.


Wien/Budapest. Am 27. Juni 1989 ging ein Foto um die Welt: Österreichs Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollegen Gyula Horn schneiden bei Klingenbach den Eisernen Vorhang durch - es war der Anfang vom Ende des Ostblocks. Dabei - sagt jener Mann, der die beiden fotografierte - erfolgte die Aktion mit fast zwei Monaten Verspätung. Denn schon am 2. Mai 1989 hatte Ungarn damit begonnen, die Grenzzäune abzubauen. "Nur haben das die Politbüros und Geheimdienste vom KGB bis zur Stasi, aber auch die westeuropäischen Medien alle miteinander verschlafen", sagt Bernhard Holzner, der lange als Pressefotograf tätig war und heute ein Fotostudio in Wien betreibt, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Der heute 62-jährige gebürtige Tiroler war schon Anfang Mai 1989 vor Ort und machte Fotos. "Das war nichts Geheimes, da gab es eine Aussendung dazu." Seine Bilder wurden damals über die Nachrichtenagentur AP (Associated Press) ausgeschickt, "und ich bin schon davon ausgegangen, dass am nächsten Tag die Titelseiten weltweit damit voll sein würden". Umso größer war sein Erstaunen, dass keine einzige Zeitung darüber berichtete.

Ungarns Armee verkaufte Stacheldraht mit Holzners Foto

Seine erste Reaktion: "Ich war wirklich sauer." Seine zweite Reaktion: "Ich habe mich an Außenminister Mock gewandt und ihm gesagt, dass es doch nicht sein kann, dass jede Straßeneröffnung mehr mediale Aufmerksamkeit bekommt als dieses epochale Ereignis." Mock sah das wohl ähnlich, und so wurde die gemeinsame Aktion mit Horn organisiert. "Das war dann ein riesiger Medienauftritt." Zur in verschiedenen Medien immer wieder aufgestellten Behauptung, der Zaun sei damals eigens für die Aktion noch einmal aufgestellt worden, stellt Holzner klar: "Wir sprechen von 360 Kilometern Grenze mit bis zu sechs Zaunlinien. Es hat gut ein halbes Jahr gedauert, bis das alles abgebaut war. Natürlich, ein bisschen hergerichtet haben die Ungarn die Stelle schon."

Holzner selbst hat ein Stück Zaun als Erinnerung daheim - mit Echtheitszertifikat. "Ungarns Armee hat damals tausende Stücke Eiserner Vorhang verkauft - samt meinem Foto dazu - und damit Geld gemacht", erzählt er. Er selbst erhielt für das Foto lediglich ein AP-Honorar. "Wenn ich für jeden Abdruck Geld bekäme, wäre ich heute reich." Dafür verliehen ihm später Ungarn und Deutschland ein Ehrenzeichen und eine Verdienstmedaille.

"Es war kein Geld mehr da,um den Zaun zu erhalten"

Was er nicht hat - und auch nie hatte -, ist der Bolzenschneider, mit dem Mock und Horn damals den Zaun durchschnitten und den angeblich Holzner mitgebracht haben soll. "Das ist ein absoluter Blödsinn", sagt er dazu. "Das waren zwei große und zwei kleine Bolzenschneider, die das österreichische oder das ungarische Außenamt besorgt hatte. Mit der Organisation hatte ich nichts zu tun." Einzig in die Choreografie mischte er sich ein: "Ursprünglich sollte von der österreichischen Seite aus in Richtung Ungarn geschnitten werden. Da habe ich gesagt, das kommt überhaupt nicht in Frage, das muss umgekehrt sein." Sein Motiv war dabei gar kein politisches, sondern ein rein fotografisches: "Ich hätte nämlich sonst extrem störendes Gegenlicht gehabt. Aber wenn ich das den Politikern so gesagt hätte . . ."

Zum Hintergrund der Demontage des Eisernen Vorhangs in Ungarn sagt Holzner: "Die hatten ganz einfach kein Geld mehr, um den Zaun instand zu halten. Und Michail Gorbatschow hat ihnen keines gegeben, weil er auch nichts mehr hatte." Ungarns Ministerpräsident Miklós Németh habe damals den sowjetischen Staats- und Parteichef sehr wohl darüber informiert, "aber eher so en passant, genauso wie die Ungarn 1988 ihren Bürgern Pässe ausgestellt haben, ohne Begründung - wer reisen wollte, konnte reisen". Der Ausdruck "Gulasch-Kommunismus" beschreibe das ganz gut: "Zwei Schritte vor, einer zurück, dann wieder zwei vor . . ." Der Eiserne Vorhang sei in Ungarns Bereich damals schon weniger schwer bewacht gewesen als andernorts: "Die Minenfelder waren großflächig aufgeräumt, auch die Selbstschussanlagen waren schon wieder weg. Und es ist ständig irgendein Alarm losgegangen, weil das System so marod war."

Die Aktion vom 27. Juni 1989 schlug jedenfalls sofort hohe Wellen bei jenen Ostdeutschen, die Westfernsehen empfangen konnten. "Hunderte oder gar Tausende - so genau kennt man die Zahlen nicht - haben sich noch in der Nacht ins Auto gesetzt und sind nach Ungarn abgehauen. Am Anfang haben die Grenzpolizisten noch die Pässe kontrolliert, aber irgendwann nach Mitternacht haben sie aufgegeben. Es war ihnen einfach wurscht." Dazu muss man wissen, dass Ungarn das klassische Urlaubsland der DDR-Bürger war, die ohne Sondergenehmigung an den Plattensee fahren konnten - aber nur in den Sommermonaten. "Wäre das Ganze im September passiert, hätte es vielleicht gar keine Reaktion ausgelöst, weil die DDR-Flüchtlinge schon an der tschechischen Grenze gescheitert wären. Wahrscheinlich wäre auch die Berliner Mauer nicht so schnell gefallen." So aber brach der gesamte Ostblock binnen sechs Monaten zusammen - und zwar mehr oder weniger unblutig, bis auf die Erschießung des rumänischen Diktators Nicolae Ceaucescu am 25. Dezember 1989 als finalen Akt.

Es war freilich nicht so, dass die Grenze ab 27. Juni 1989 nicht mehr bewacht gewesen wäre. "Ich habe einen Ostdeutschen getroffen, der acht- oder neunmal zurückgeschickt worden war, bevor er es geschafft hat." Allerdings war das Auslieferungsabkommen für Flüchtlinge aus dem Ostblock schon seit dem Frühjahr mit dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Menschenrechtskonvention erledigt. "Damit durften die Ungarn keine Ostdeutschen mehr zurück in die DDR abschieben, haben sie selbst argumentiert." Holzner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Revolution in Ungarn von oben erfolgte. "Ich kenne nur zwei Länder auf der Welt, wo die Regierung von sich aus die Demokratie eingeführt hat: Bhutan und Ungarn." Ungarn wusste freilich damals nicht, wie der Kreml auf die Öffnung reagieren würde, angesichts des Drucks aus den anderen kommunistischen Ländern, die Grenzen dichtzuhalten.

Großartiger Hilfseinsatz der Bevölkerung im Burgenland

Rund 600 bis 700 DDR-Bürger nutzten dann auch das Paneuropäische Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze nahe Sopron (Ödenburg) am 19. August 1989, als ein Grenztor symbolisch für drei Stunden geöffnet wurde, zur Flucht in den Westen - und überrumpelten damit die Veranstalter selbst: "Eigentlich war ausgemacht, dass nichts passieren und das ein rein symbolischer Akt sein sollte", erzählt Holzner. "Deshalb waren auch nur ein paar ungarische Grenzpolizisten und österreichische Zöllner dort. Hätte man auch nur irgendetwas geahnt, wäre wohl eine Hundertschaft an der Grenze gestanden. Bis heute ist nicht bekannt, wer damals die Einladungen gedruckt und unter den Ostdeutschen verteilt hat." Medien waren keine dabei: "Die hatten ja erwartet, dass lediglich ein paar Ungarn und Burgenländer im Gras sitzen und Wurstsemmeln essen und Bier trinken - wo wäre da die Story gewesen? Sie wurden ebenfalls von den Ereignissen überrascht."

Holzner war vor allem beeindruckt vom enormen Einsatz der burgenländischen Bevölkerung: "Da wurden blitzartig private Lager aufgebaut. Die Leute haben Zeug herangeschleppt - Wahnsinn." Viele Flüchtlinge hatten tatsächlich nichts mit als die Kleidung, die sie trugen, erinnert sich der Fotograf, der damals mit der Kamera live dabei war. In Erinnerung geblieben ist ihm unter anderem ein Kind, das im Burgenland zum ersten Mal in seinem Leben eine Banane aß. "Das waren sehr berührende Szenen."