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Slowjansk hat den Krieg abgeschüttelt

Von WZ-Korrespondentin Daniela Prugger

Politik

Vor fünf Jahren wurde die ostukrainische 114.000-Einwohner-Stadt von den ukrainischen Truppen zurückerobert. Der Krieg hat den Ort verändert. Langfristig zum Guten, wenn man Tanzlehrer Oleksiy Ovchynnykov fragt. Eine Spurensuche.


Slowjansk. Schleifend ziehen die Tänzer ihre Schuhspitzen über den polierten Boden, dann wiegen sie die Hüften und drehen sich vor den großen Spiegeln. Aus den Boxen dröhnt ein HipHop-Song und Oleksiy Ovchynnykov, ein sportlicher 40-Jähriger in Jogginghose, zählt auf Russisch den Takt. Er läuft an den Mädchen vorbei, die Absätze und kurze schwarze Kleider tragen und korrigiert ihre Haltung. Für einen Buben in T-Shirt und Stoffhose wiederholt er den Schlenker mit dem Bein.

Neunzehn Schüler zwischen zwölf und achtzehn Jahren trainiert Ovchynnykov drei Stunden täglich. Er ist der Leiter der Tanzschule Grazia in der ostukrainischen 114.000-Einwohner-Stadt Slowjansk. 60 Kilometer von hier entfernt führt die Ukraine Krieg gegen prorussische Separatisten. Laut den Vereinten Nationen sind bereits mehr als 13.000 Menschen gestorben, 30.000 wurden verletzt und 1,5 Millionen flohen in die restlichen Gebiete des Landes. "Wir tanzen trotzdem weiter", sagt Ovchynnykov.

Nur der Sockel blieb von Lenin

Daran, dass vor fünf Jahren der Krieg in Slowjansk tobte, erinnern heute nur einige zerstörte Häuser außerhalb der Stadt. Im Zentrum haben kleine Cafés, Friseur- und Kosmetikläden neu eröffnet, davor parken Autos, ältere Modelle, viele Ladas. Auf dem Hauptplatz führt ein Mann ein Pony an staunenden Kindern vorbei, gleich daneben sitzen, rauchen und skaten an sonnigen Tagen die Teenager. Die Lenin-Statue steht nicht mehr, nur der Sockel ist geblieben, daneben wehen die blau-gelben Flaggen der Ukraine. Und an einer alten baufälligen Häuserwand neben dem Platz steht das russische Wort "Mir". Es bedeutet sowohl "Welt" als auch "Frieden".

"Krieg ist surreal", sagt Ovchynnykov, "ich kann noch immer nicht glauben, dass das alles passiert ist." Er deutet den Tänzern, Paare zu bilden. Die jüngeren Mädchen streichen ihre Haarsträhnen schüchtern hinters Ohr, während die Buben starr an ihnen vorbeiblicken. Sie machen schnelle Schritte. Salsa, Rumba, Chachacha. "Ballroom Dance" nennt sich dieser Sport. Ovchynnykov tanzt seit seinem sechsten Lebensjahr. Die Tanzschule hat er 2005 von seiner Mutter übernommen.

Damals litt die 110.000-Einwohner-Stadt unter einer hohen Arbeits- und Ereignislosigkeit, eine typische postsowjetische Stadt, deren Bewohner in gesichtslosen, immer gleichen Plattenbauten wohnen. Die Menschen zogen eher weg als zu, und jene, die Eltern wurden, schickten ihre Kinder in die Tanzschule, weil es sonst kaum Sport-Angebote gab.

"In Slowjansk war nie etwas los. Hier ist nie etwas passiert", sagt Ovchynnykov. Wollte er etwas erleben, fuhr er in die nächstgrößere Stadt Donezk, wo es gute Restaurants, Hotels und Kinos gab - die Hinterlassenschaften der Fußball-Europameisterschaft 2012. Damals jubelten die meisten Stadtbewohner der ukrainischen Nationalmannschaft zu.

"Donezk ist für mich gestorben"

Und zwei Jahre später dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Donezk befindet sich heute im Separatistengebiet, das neben der von Russland annektierten Halbinsel Krim außerhalb der Kontrolle der ukrainischen Regierung steht. "Donezk ist für mich gestorben", sagt Ovchynnykov. "Die Menschen dort haben keine Perspektive und keine Zukunft."

Als der Krieg ausbrach, stand Ovchynnykov daneben. In den Straßen und rund um den Hauptplatz beobachtete er, wie bewaffnete und maskierte Männer Barrikaden errichteten. Sie stapelten Sandsäcke und Reifen und hissten die russische Flagge. "Ich dachte, dass diese Leute Verrückte sind und bald wieder gehen würden", sagt Ovchynnykov. Doch der 12. April 2014 ging in die Geschichte ein, als der Tag, an dem in der Ostukraine der Krieg begann. "Ich konnte mich nicht mehr frei bewegen und nicht sagen, was ich wollte." Kaum einer seiner Schüler kam noch in den Unterricht. Viele flohen nach Kiew. Nachdem die Tanzschule durch eine Granate beschädigt wurde, verließ Ovchynnykov die Stadt und brachte sich in einem nahegelegenen Dorf in Sicherheit.

Zwang zum Neubeginn

Am 5. Juli 2014, vor genau fünf Jahren also, wurde Slowjansk von der ukrainischen Armee befreit. Nahrung, Wasser und Strom waren knapp und als Oleksiy Ovchynnykov zurückkam, sahen die Menschen aus wie Zombies. Er zögerte mit der Wiedereröffnung der Tanzschule. "Es war so, als ob wir auf den Knochen der Toten tanzen würden." Wie viele andere musste er neu anfangen. "Wir alle mussten erst einmal verstehen, dass man in Slowjansk wieder leben kann und dass das nicht mehr der Mars ist."

Freiwillige Helfer aus dem ganzen Land kamen und bauten die zerstörten Häuser wieder auf. Eine Gruppe von Mädchen, die aus dem besetzten Donezk geflohen waren, gründeten ein Theater. Ovchynnykov organisierte mit Freunden Straßen- und Stadtfestivals, auf denen es Playstation-Stationen für Kinder, Fotoausstellungen und Filmvorführungen gab. Die Menschen haben Geld und Blumen gespendet und begonnen, sich für die Geschichte des Ortes zu interessieren. "Das hat es vor dem Krieg nicht gegeben."

Separatisten in der Verwaltung

Der Krieg hat die Stadt und die Menschen verändert und wenn man Ovchynnykov fragt, zum Guten. Derzeit wird ein Kulturzentrum gebaut, Ovchynnykov leitet das Projekt. "Ich glaube, dass dieser Ort die gesamte Stadt verändern wird", sagt Ovchynnykov und läuft über einen Platz, der aussieht wie ein übergroßes Schachbrett. Dann betritt er einen Rohbau. In den nackten Räumen hallt der Lärm der Presslufthämmer und Sägen. Hier soll es bald ein Restaurant, einen Co-Working-Space, einen Shop und eine Konzerthalle geben. In der Stadtverwaltung sitzen noch immer viele, die damals die Separatisten unterstützt haben. "Ich versuche so wenig wie möglich mit denen zu tun zu haben", sagt er.

Stattdessen kämpft er dafür, dass die jungen Menschen bleiben und neue Idee umsetzen. Er will, dass sich das Leben in Slowjansk verbessert. Die Menschen hier sind passiv, sagt er. "Sie verstehen nicht, dass es in der Ukraine zwar viele Probleme, aber auch genauso viele Chancen gibt."