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Die europäische Selbstdemontage der SPD

Von Alexander Dworzak

Politik

Das Nein der deutschen Sozialdemokraten zu Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin ist töricht. Eine Analyse.


Berlin/Brüssel/Wien. Nein, nein und nochmals nein, hallt es derzeit aus der deutschen Sozialdemokratie. Ursula von der Leyen darf nicht EU-Kommissionspräsidentin werden. Das fordert nicht nur der Neinsager vom Dienst, Kevin Kühnert, was als Chef der Jungsozialisten Teil seiner Arbeitsplatzbeschreibung ist. Sondern auch die besonnene Katarina Barley, Ex-Justizministerin und Listenerste der SPD bei der Europawahl. Ex-Parteichef Sigmar Gabriel und natürlich Kühnert sehen sogar das Ende der schwarz-roten Koalition in Deutschland nahen.

Sie alle stoßen sich daran, dass der Rat der EU-Staats- und Regierungschefs bei der wichtigsten Personalie in der Union nicht auf einen der Spitzenkandidaten der EU-Wahl zurückgegriffen hat. Stattdessen wurde die deutsche Verteidigungsministerin aus dem Hut gezaubert. Nun suchen EU-Parlamentarier aus verschiedenen Lagern nach einer Mehrheit, um von der Leyen die notwendige Bestätigung zur Kommissionspräsidentin zu verwehren. Denn: Das Vorgehen des Rats, sei "nicht das Versprechen, das den Bürgerinnen und Bürgern vor der Wahl gegeben wurde", kritisiert Barley.

Parteitaktische Spielchen

Was stimmt - und dennoch viel zu kurz greift. Die "Hinterzimmerpolitik" des Rats war ungustiös. Aber wenn den Abgeordneten das Spitzenkandidat-Prinzip so wichtig gewesen wäre, hätten sie seit der EU-Wahl Ende Mai Zeit gehabt, sich auf den konservativen Wahlsieger Manfred Weber, den Sozialdemokraten Frans Timmermans oder die Liberale Margrethe Vestager zu einigen. Damit hätten sie Druck auf den Rat aufgebaut. Stattdessen verfielen die Parlamentarier in parteitaktische Spielchen. Nachdem mehr als zehn Staats- und Regierungschefs, angeführt von Frankreichs Emmanuel Macron, Weber ob seiner inexistenten Regierungserfahrung als Leichtgewicht abgestempelt hatten, wichen auch die linken Parlamentarier von dem Bayern ab. Sie sahen Timmermans’ Stunde gekommen. Konservative konnten aber nicht akzeptieren, dass die zweitstärkste Kraft den Kommissionschef stellen soll. Wer nun die Schuld alleine auf die osteuropäischen Visegrad-Staaten schiebt, die im Rat Timmermans ablehnten, putzt sich ab.

Paradoxerweise haben ausgerechnet die nationalkonservativen Regierungen Polens und Ungarns die bürgerlich-liberale von der Leyen schließlich auf den Schild gehoben. Jene Frau, die die in Warschau und Budapest verhasste Flüchtlingspolitik von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel stets verteidigt hat. Von der Leyen steht SPD-Positionen wesentlich näher als Weber, dessen CSU jahrelang Ungarns Premier Viktor Orban hofiert hat. Als Familienministerin machte sich die CDU-Politikerin von der Leyen für mehr Kinderbetreuungsplätze und bessere Jobchancen für Frauen stark - und zog sich damit den Ärger der CSU zu. Abgesehen vom Signal, erstmals eine Frau an der Kommissionsspitze zu haben, wäre sie die liberalste Person auf dem Posten seit dem Sozialdemokraten Romano Prodi, der von 1999 bis 2004 amtierte.

Anstatt sich darüber zu freuen, fände es Michael Roth, SPD-Kandidat für den Parteivorsitz, "super, wenn das europäische Parlament die Kraft aufbrächte, sich doch noch mal für einen der Spitzenkandidaten zu entscheiden". Hier verbreitet ein Staatsminister im Auswärtigen Amt, somit nur eine Ebene unter dem Außenminister, Unsinn: Das EU-Parlament hat kein Vorschlagsrecht, es kann der Personalauswahl des Rats nur zustimmen oder diese ablehnen.

Auch moniert Europaabgeordnete Barley im ZDF: "Ursula von der Leyen kennt man in Deutschland in der Bevölkerung. Im Rest Europas kennt sie kein Mensch." Weber und Timmermans kennt europaweit auch kein Mensch, genau deswegen konnten die Staats- und Regierungschefs das Spitzenkandidaten-Prinzip relativ einfach entsorgen.

Halbes Jahrhundert gewartet

Außerhalb des deutschsprachigen Raumes hat dieses Konzept bei den Unionsbürgern nie Fuß gefasst. Ersonnen wurde es für den Europawahlkampf 2014 von den schwarz-roten Spezis Jean-Claude Juncker und Martin Schulz. Wie Weber hatte Schulz niemals Regierungserfahrung gesammelt. Er diente sich in Brüssel und Straßburg vom EU-Abgeordneten bis zum Präsidenten des Parlaments hoch, ließ 2014 affichieren: "Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden." Fünf Jahre später, 52 Jahre nachdem Walter Hallstein als Präsident der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abtrat, käme wieder Deutschland zum Zug. Und der SPD passt es nicht.

Von der Leyen wirbt derweil um die Gunst der EU-Parlamentarier. Sie will ein neues Spitzenkandidatenmodell entwickeln, das vom Rat, in den Mitgliedstaaten und von den Abgeordneten getragen wird. Ihre Chance, Mitte des Monats von den EU-Parlamentariern gewählt zu werden, stehen nicht schlecht, auch Sozialdemokraten anderer Länder scheren aus der SPD-Blockadehaltung aus. Denn klar ist, dass die Spitzenkandidaten aus dem Rennen sind. Die Parteien fragen sich daher, ob Besseres nachkommt, wenn sie von der Leyen verhindern.

Das alles ficht die SPD nicht an. Sie bestätigt dieser Tage eindrucksvoll, warum nur noch 13 Prozent der Deutschen die Genossen wählen wollen.