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Europas Achterbahnfahrt der Gefühle

Von Walter Hämmerle

Politik
© Illustration: WZ/ham; Digital Vision Vectors/pukrufus/Getty

Erst Wahl-Euphorie, dann Personal-Depression: Die Union gibt sich ihren Stimmungsschwankungen hemmungslos hin.


Brüssel. Sehr vielen Menschen ist die EU ein Herzensanliegen, nicht wenigen das genaue Gegenteil. Und immer, wenn zu viele Emotionen mit im Spiel sind, gewinnt die Leidenschaft die Oberhand und Gefühlswallungen verzerren den Blick auf die simple Wirklichkeit.

Weil wir Menschen allen Objekten unserer Begierden verlässlich mit heftigen inneren Schwankungen begegnen, gleicht das Gefühlsleben jedes passionierten Europäers einer wilden Achterbahnfahrt, die ihn beständig zwischen den Höhen des Olymps und den Tiefen des Hades pendeln lässt. Und das in immer kürzer werdenden Abständen. Wer erinnert sich etwa noch an den Mai 2017? Damals gewann Emmanuel Macron die Stichwahl um das Amt des französischen Staatspräsidenten gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen. Und er tat dies mit einem Plädoyer für eine Vertiefung der Europäischen Union auf den Lippen. Fortan war der ehemalige Minister einer sozialistischen Regierung ein Ritter in gleißend weißer Rüstung, gekommen um einem erstarrten Frankreich neues Leben und einer verunsicherten Union neue Tatkraft einzuhauchen.

Und heute? Zwei Jahre später erscheint derselbe Macron in einem ganz anderen Licht: Als ein abgehobener Staatschef, der gemeinsam mit den finsteren Visegrad-Vier rund um Ungarns Viktor Orbán dem brustschwachen Demokratisierungsversuch der EU den Todesstoß versetzt. Macron, der Erneuerer Europas, in einem Boot mit Orbán.

Macron: erst Retter,jetzt Rechter

Dabei haben die neu gewählten Abgeordneten das Spitzenkandidatensystem ganz allein zu Fall gebracht. Einen Monat hatten die 751 Mandatare Zeit, sich entweder hinter Manfred Weber oder Frans Timmermans zu versammeln, den Spitzenkandidaten der Konservativen und der Sozialdemokraten bei der EU-Wahl. Das hätte den Spielraum der Staatschefs massiv eingeengt. Stattdessen spielten die Fraktionen lieber politische Spielchen miteinander. Der Rat sagte auf seine Art Danke und erteilte dem Parlament eine Lektion in Machtpolitik.

An Macron lässt sich die Achterbahnfahrt der europäischen Gefühle besonders gut nachzeichnen. Ihm gelingt das Kunststück, über gleich zwei politische Identitäten zu verfügen: Zu Hause wird er von seinen Kritikern als Vertreter einer neoliberalen Rechten gebrandmarkt, die den Sozialstaat zurückschraubt, in Brüssel gilt er als progressiver Liberaler, der die Integration der Union vorantreiben will; dass sich seine europäischen Ideen verlässlich an den Interessen Frankreichs orientieren, steht auf einem anderen Blatt.

Aber zurück zum Höllenritt der Gefühle. Was haben wir im Frühjahr gezittert vor dem Sturm der nationalistischen Barbaren auf Brüssel. Die EU-Wahl Ende Mai wurde zur Entscheidungsschlacht um Europas Zukunft ausgerufen. Am Wahlabend schlug dann das Stimmungspendel um: Das große Bangen war wie weggeblasen, dafür jubelten die Schlagzeilen über die höchste Wahlbeteiligung seit 20 Jahren, die deutliche Mehrheit pro-europäischer Kräfte und das Erstarken der Grünen im neuen EU-Parlament. Der vorhergesagte Sturmlauf der Nationalisten erwies sich als ein laues Lüfterl.

Sogar dass Konservative und Sozialdemokraten ihre gemeinsame Mehrheit verloren hatten, wurde unmittelbar nach der Wahl noch als demokratiepolitischer Fortschritt begrüßt. Dass es jedoch 2014 genau dieser Mehrheit bedurfte, um die Premiere des Spitzenkandidatensystems gegen die Kritiker im Rat überhaupt durchzusetzen, war fünf Jahre später schon wieder vergessen.

Auf die Euphorie der Wahl folgt das Leiden an von der Leyen

Jetzt sorgt die Nominierung der aktuellen deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als neue Präsidentin der EU-Kommission durch die Staats- und Regierungschefs für die nächste kollektive Depression. Eine Niederlage der Demokratie, ein Sieg der Hinterzimmer sei diese Personalie, quasi eine Absage an alle, die eben noch durch ihre Stimmabgabe bei der EU-Wahl mitgeholfen hätten, für neuen Elan zu sorgen.

Gefühle entziehen sich der analytischen Vernunft. So gesehen muss man nicht verstehen, wie eine völlig vertragskonforme Entscheidung des Rats, die, noch dazu in Kombination mit der Designation der Französin Christine Lagarde zur künftigen Chefin der Europäischen Zentralbank, Europas mächtigste Institutionen zum ersten Mal in weibliche Hände legt, einen wie auch immer gearteten Rückschritt von irgendetwas bedeuten könnte. Politisch lässt sich natürlich über diese wie jede Personalfrage streiten, aber Politik ist bekanntlich auch keine absolute Kategorie.

Jedes politische Projekt, und eines im Ausmaß der Union umso mehr, ist auf ein Mindestmaß an Leidenschaft seiner Befürworter angewiesen. Davon verfügt die EU aktuell im Übermaß; was ihr fehlt, ist die gebotene Gelassenheit angesichts einer nun auch schon wieder 62-jährigen Geschichte. Dabei gibt es durchaus berechtigte Gründe, die Anlass für handfeste Sorgen geben; allen voran die Dynamik einer zunehmend antagonistischeren Weltordnung, die die Union völlig unvorbereitet trifft, die digitale Revolution, die Nähe zu den Krisenherden in Nahost und Nordafrika, die nach wie vor wackelige Architektur des Euro und etliche mehr.

Bei keiner dieser Herausforderungen nützt die Lust der europäischen Eliten an der permanenten Hyperventilation, die seit einigen Jahren den Takt vorgibt.