Zum Hauptinhalt springen

Selenskyj nimmt Kurs auf die Absolute

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Dem neuen ukrainischen Präsidenten ist mit seiner Partei "Diener des Volkes" bei der kommenden Parlamentswahl ein haushoher Sieg sicher. Ob er mit seinen jungen Kandidaten die nötigen Reformen durchsetzen kann, ist noch offen.


Kiew. Es gibt so viele Geschichten, die der Maidan geschrieben hat. Damals, als im Winter 2013/14 tausende Menschen im Zentrum Kiews für die EU-Annäherung der Ukraine demonstrierten. Die von den jungen Ukrainern, die nur mit einfachen Holzschildern bewaffnet in den Kugelhagel stürmten. Die Musikerinnen, die bei Eiseskälte auf den Barrikaden ihre Songs spielten. Oder die Studenten, die in Nachtschichten Brote strichen und Suppen austeilten.

Dmytro Natalucha hat auch so eine Geschichte. Eigentlich studierte der damals 26-jährige Jurist im englischen Cambridge. Doch als die Proteste immer heftiger wurden, flog er immer wieder in die Ukraine zurück. Jedes Mal, wenn er in seiner Heimatstadt Kiew landete, hatte er einen Sack voller Helme dabei. Sechs Stück, so viele brachte er durch den Zoll. "Davon gab es damals auf dem Maidan einfach nicht genug", sagt er. Sein kleiner Beitrag für die Revolution.

Heute sitzt Natalucha in einem Cafe unweit des Maidan, die goldene Stele der Unabhängigkeitsstatue glitzert in der Sonne. Der Rauch der Revolution hat sich schon lange verzogen, doch die Probleme sind geblieben, sagt Natalucha. Die Korruption, die Oligarchen, die Monopole. Mit ein Grund, warum es am 21. Juli zu einer weiteren Revolution in der Ukraine kommen könnte - an den Wahlurnen, wie viele Kommentatoren zuletzt prophezeiten. Natalucha tritt für die Partei "Sluga Naroda" ("Diener des Volkes") des Fernsehkomikers Wolodymyr Selenskyj an. Mit dem Listenplatz 14 hat er gute Chancen, in das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, einzuziehen.

Mehrheit à la Macron

Nach dem Präsidentenamt greift Selenskyj nun auch im Parlament nach der Macht. Ein Schauspieler und Produzent, ohne politische Erfahrung, aber sein unorthodoxer Wahlkampf aus Comedy-Auftritten, sozialen Medien und Witzen über die Mitbewerber hat ihm bei der Präsidentschaftswahl mit 73 Prozent den Sieg gebracht. Als erste Amtshandlung ließ der 41-Jährige die Rada auflösen, die mehrheitlich noch loyal zu seinem politischen Widersacher Petro Poroschenko ist und Selenskyjs Initiativen blockierte.

Die Partei "Sluga Naroda", die Selenskyj mit Filmkollegen ins Leben gerufen hatte, pendelt in Umfragen zwischen 43 und 50 Prozent. Sie hat denselben Namen wie die TV-Serie, in der Selenskyj den Geschichtslehrer mimt, der über Nacht zum Präsidenten gewählt wird. Die entscheidende Frage nach der Wahl wird sein, ob "Sluga Naroda" überhaupt einen Partner braucht, um zu regieren. Wenn nicht, wäre es die erste absolute Parlamentsmehrheit seit der Unabhängigkeit 1991.

Doch wofür steht Selenskyj? Für den Einfluss des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, auf dessen Fernsehsender Selenskyjs so erfolgreiche Serie lief und dessen Vertraute immer wieder in seinem Umfeld auftauchen? Oder doch für den von den Wählern so erhofften Neubeginn der Reformer? "Was wird Selenskyj mit diesem Tsunami à la Macron anfangen?" fragte zuletzt der Bloomberg-Kolumnist Leonid Bershidsky in Anlehnung an Emmanuel Macron, der 2017 die französische Präsidentschaft und ein Jahr später mit seiner Bewegung "En Marche!" die absolute Mehrheit im Parlament holte.

Pragmatismus statt Illusionen

Selenskyj bekommt die seltene Gelegenheit, den postsowjetischen Sumpf in Kiew trocken zu legen - aber bis jetzt haben wir wenige Hinweise, was er mit seiner ganzen Macht anfangen wird. Die Parteiliste zeichnet jedenfalls ein gemischtes Bild: Einerseits hat Selenskyj alte Freunde aus dem Filmgeschäft und aus seiner Heimatstadt Krywyj Rih auf die Parteiliste geholt. Auf den vorderen Listenplätzen finden sich aber auch Manager aus dem Medienimperium des Oligarchen Kolomojskyj, wie der Generaldirektor des Fernsehsenders 1+1 oder der Leiter der Presseagentur Union.

Doch es gibt noch eine dritte Gruppe: die der jungen Reformer und Maidan-Aktivisten. Der Jurist Natalucha ist so einer. Nach dem Maidan kehrte der heute 31-jährige in die Ukraine zurück. Als Stellvertreter des Gouverneurs von Odessa, Micheil Saakaschwili, suchte er in der Schwarzmeerstadt Reformen durchzusetzen Doch Saakaschwili warf bald das Handtuch. "Es stimmt, Selenskyj ist vielleicht mit gewissen Geschäftsleuten verbunden", räumt Natalucha ein. "Und ich sage auch nicht, dass morgen das Paradies ausbricht." Doch die Chance, dass unter Selenskyjs Kommando ein wirklicher Wechsel möglich ist, steht ihm zufolge immerhin bei 50 zu 50.

Ist das nicht ein bisschen wenig? "Aber dass mit Poroschenko die Chancen auf Veränderungen gegen null gehen, das haben wir doch schon in den fünf Jahren zuvor gesehen", kontert er. "Außerdem sind wir eine junge Demokratie. Je öfter die Macht wechselt, desto besser. Garantien gibt es keine, aber lasst es uns doch zumindest versuchen!"

Pragmatismus statt Illusionen, das klingt auch bei Jelisaweta Jasko durch. Doch die 28-jährige Politologin, die an einem heißen Tag in einem Gastgarten im hippen Kiewer Viertel Podil sitzt, geht sogar noch weiter. Wenn sie über die Popularität des Komikers spricht, dann fallen schnell Worte wie "gefährlich" oder "zu hohe Erwartungen." Geschockt sei sie gewesen, als sie als Produzentin mit einem französischen Fernsehteam die Präsidentschaftskampagne des Komikers begleitete und bei spontanen Straßen-Interviews schon vor dem ersten Wahlgang eine Ahnung vom großen Rückhalt Selenskyjs in der Bevölkerung bekam. "Die Geduld der Menschen mit der Politik ist am Ende", sagt sie. "Deswegen sind sie sogar bereit, einen Kandidaten zu unterstützen, der keinerlei politische Erfahrung hat. Genau deswegen brauchen sie jetzt Leute, die etwas von ihrem Handwerk verstehen."

Dass sie selbst so jemand ist, daran lässt sie keine Zweifel. Jasko hat zwei Jahre als Beraterin für strategische Kommunikation in der Präsidialadministration unter Poroschenko gearbeitet, in Oxford Public Policy studiert und später auch kurz im britischen Parlament gearbeitet. Wie Natalucha, so hat sie erst wenige Tage zuvor beim Parteitag die Reihung ihrer Kandidatur erfahren. Nach derzeitigen Umfragen ist ihr mit dem Listenplatz 15 der Einzug in die nächste Rada sicher. "Es ist eine große Verantwortung", sagt sie. "Wir werden eine völlig neue Szene im Parlament bilden."

Doch sind die jungen Aktivisten ein Zeichen für echten Aufbruch oder doch nur politische Leichtgewichte? "Das Parlament steht vor einer beispiellosen Erneuerung in der Geschichte der Ukraine", schreibt auch das Kiewer Nachrichtenmagazin "Nowoje Wremja". Doch wer künftig von den Gruppen den Ton angeben wird, wird wohl erst die Zeit zeigen. "Selenskyj braucht die jungen Reformer, um die Liste attraktiver zu machen und fähige Abgeordnete in seiner Fraktion zu haben", sagt Iryna Solonenko von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. "Es wird mehr neue Gesichter in der Rada geben und wir haben gute Gründe, anzunehmen, dass damit auch mehr reformorientierte Kräfte vertreten sein werden."

Zersplitterte Reformkräfte

"Es sind dort viel weniger Kolomojskyj-Leute als ursprünglich angenommen", sagt auch der Politologe Balazs Jarabik vom Carnegie Endowment for International Peace - wenngleich er anmerkt, dass die Vertrauten des Oligarchen wohl nicht über die Parteilisten, sondern eher über die Direktmandate in den Wahlkreisen, die immerhin die Hälfte der Sitze ausmachen, in das Parlament einziehen werden. "Dennoch wird die halbe Rada neu besetzt werden. Das ist eine große Chance für Reformen", sagt Jarabik. "Aber viel wird davon abhängen, wie es Selenskyj gelingen wird, diese ‚Grünschnäbel‘ zu steuern."

Auch 2014, nach dem Maidan, waren viele junge Reformer in das Parlament eingezogen, die sich über die Fraktionen hinweg zu den "Euro-Optimisten" zusammengeschlossen hatten. Heute ist die Gruppe zersplittert, in Machtkämpfen zerrieben, auf hintere Listenplätze verbannt. Wird sich die Geschichte wiederholen? "Ich habe noch keine Antwort darauf", gibt Jasko freimütig zu. "Ich kann nur sagen, dass ich Kolomojskyj nie persönlich in der Parteizentrale gesehen habe." Nachsatz: "Aber wenn ich merke, dass Abstimmungen dazu benutzt werden, um Vorteile für Oligarchen herauszuschlagen, dann ist das eine rote Linie für mich."