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"EU leidet unter einem Demokratiedefizit"

Von Martyna Czarnowska

Politik

Polens Außenminister Jacek Czaputowicz sieht die Union nur durch starke Nationalstaaten und deren Parlamente legitimiert.


"Wiener Zeitung": Bei der Besetzung von Spitzenjobs in den EU-Institutionen wurden in der vergangenen Woche die ost- und mittelosteuropäischen Länder übergangen. Die Posten gingen an Deutschland, Frankreich, Spanien. Haben die jüngeren Mitgliedstaaten ihre Chance vertan?

Jacek Czaputowicz: Diese Länder sind nicht repräsentiert. Sie sollten es aber sein; dann gäbe es ein größeres geografisches Gleichgewicht. Es stimmt, dass nur die älteren EU-Staaten vertreten sind. Aber es ist gut, dass eine Einigung erzielt wurde. Die Nominierten sind erfahrene Personen. Es geht nicht nur um das geografische, sondern auch um das politische Gleichgewicht. Das wurde gewahrt. Es geht ebenso um die Einstellung zur künftigen Entwicklung der EU. Diese Personenkonstellation signalisiert ein Abrücken vom Föderalismus - durch die Ablehnung des Spitzenkandidaten-Prinzips. Gewonnen hat das zwischenstaatliche Prinzip.

Dass sich die Regierungen untereinander ausmachen, wer welches Amt übernimmt, wird im EU-Parlament als undemokratisch bezeichnet. Das wünscht sich eine andere Entwicklung der EU als zum Beispiel Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der einerseits gegen das Spitzenkandidaten-Modell war und andererseits für eine vertiefte Integration der EU plädiert.

Da fehlt es an Konsequenz. Wenn Macron eine Vertiefung der Integration, also eine Föderalisierung wollte, hätte er die Spitzenkandidaten-Idee unterstützt. Stattdessen hat er aber die Posten- und Aufgabenverteilung, wie sie erfolgt ist, gutgeheißen. Seine Rhetorik und die Fakten gehen auseinander.

Also doch keine Vertiefung? Entspricht das der Vision Polens?

Generell geht es in die Richtung, die wir uns wünschen. Ein wettbewerbsfähiges Europa, das sich wirtschaftlich entwickelt, auf einem Binnenmarkt und den vier Freiheiten für Waren-, Kapital- und Personenverkehr sowie für Dienstleistungen beruht. Dafür gibt es Bedrohungen durch gewisse protektionistische Tendenzen. Wir wollen ein wirtschaftlich konkurrenzfähiges Europa, das aber geschwächt wird, wenn die Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt wird.

Sprechen Sie die Debatte um die Entsendung von Arbeitern an?

Ja, das sehen wir als ein Beispiel von Protektionismus an. Die - westeuropäischen - Staaten wollen ihren eigenen Markt schützen und abschotten. Das mindert die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, was sich negativ auf die Ökonomien auswirkt - und damit auch die Rolle Europas im globalen Wettbewerb schwächt.

Sollte die EU jedoch nicht mehr als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft sein?

Die Europäische Union leidet unter einem Demokratiedefizit. Sie sollte stärker legitimiert sein. Diese Legitimation erhält sie durch die Akzeptanz der Nationalstaaten und ihrer Parlamente, die das Wesen der Demokratie ausmachen. Daher finden wir, dass die Rolle der von den nationalen Parlamenten gewählten Regierungen der Länder und der Abgeordnetenhäuser selbst in den Entscheidungsprozessen der EU gestärkt werden sollte. Das ist auch bei der Besetzung der EU-Spitzenpositionen geschehen. Daher sind wir damit zufrieden.

Von Demokratie gibt es ja unterschiedliche Auffassungen. Manche Regierungen wie die ungarische plädieren für die illiberale . . .

Wir finden, dass wir das Wesen der liberalen Demokratie repräsentieren. Der Liberalismus betrifft dabei vor allem die wirtschaftliche Freiheit, und liberale Demokratie bedeutet: die Macht des Volkes, freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Stärkung der Zivilgesellschaft. Das Gegenteil der liberalen Demokratie sind die protektionistischen Demokratien, die eine Gefahr für die Wirtschaft darstellen. In Polen gibt es keine Bedrohung: Nichtregierungsorganisationen können ihre Tätigkeit ausüben, das Recht wird respektiert. Gefahr geht lediglich für die Wirtschaft aus, von einer protektionistischen Demokratie.

Trotzdem steht in Polen die Rechtsstaatlichkeit auf dem Prüfstand. Und Teile der umstrittenen Justizreform verstoßen laut Europäischem Gerichtshof gegen EU-Regeln.

Worauf auch meine Kollegen in Deutschland hingewiesen haben: Solange ein Land die Entscheidungen des EuGH respektiert, darf ihm nicht vorgeworfen werden, dass es diese Standards nicht einhält. Der EuGH hat vor kurzem ein interessantes Urteil gefällt, wonach die Staatsanwaltschaft in Deutschland in bestimmten Fällen nicht unabhängig ist (da eine Weisung des Justizministers möglich ist). Es gibt nun einmal unterschiedliche Rechtssysteme und -auffassungen. Daher gibt es auch Debatten darüber. Entscheidend ist nun, ob sich Deutschland an den EuGH-Spruch hält. Wenn ja, dann lässt sich nicht sagen, dass es kein Rechtsstaat ist. Das betrifft auch Polen.

Wird sich Polen also auch an die Urteile des EuGH halten, der die Unabhängigkeit von Richtern in manchen Fällen gefährdet sieht?

Polen hat sich bereits daran gehalten. Die - beanstandete - Regelung zur Senkung des Pensionsantrittsalters für Höchstrichter wurde aufgehoben. Die Richter wurden wieder eingestellt. Umgekehrt haben wir vor kurzem vor dem europäischen Gericht gegen die EU-Kommission gesiegt, die die Einführung einer Einzelhandelssteuer für Supermarktketten verbieten wollte. Sie hat den Fall verloren. Ich erwähne das, um zu veranschaulichen, dass die Kommission nicht immer recht hat.

Die Kommission hat gegen Polen auch ein Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung von Grundwerten eingeleitet. Erwarten Sie von der nächsten Behörde, dass diese es vorantreibt?

Es ist ja ihre Pflicht, auf die Einhaltung von EU-Recht zu bestehen. Allerdings ist die Kommission nicht die Institution, die die Entscheidungen fällt. Bei diesem Verfahren nach Artikel 7 ist es der Rat, das Gremium der Mitgliedstaaten. Die Kommission kann einen Antrag auf Abstimmung einbringen, sie hat es jedoch nicht getan. Stattdessen führt sie einen Diskurs, da sie sich dessen bewusst war, dass andere Länder ihre Meinung nicht teilen. Sie wissen, dass wir die Standards nicht verletzen. Vizepräsident Frans Timmermans hat diese Angelegenheit in seiner EU-Kampagne benutzt.

Risse zwischen den EU-Mitgliedern zeigt die Debatte dennoch auf - ebenso wie eine weitere: jene über Migrationspolitik . . .

Polen hat mehr Migranten als andere EU-Staaten aufgenommen. Wir reden von legaler Migration: In Polen leben derzeit rund 1,7 Millionen Ukrainer sowie Bürger anderer Länder, vor allem aus dem Osten. Ein Teil von ihnen sind politische Flüchtlinge.

. . . die im Land arbeiten und von denen die Wirtschaft profitiert. Aber bei Flüchtlingen sieht es anders aus: Polen hat - nicht als einziges Land - einen Verteilungsmechanismus für Asylwerber abgelehnt. Sehen Sie das als Erfolg an?

Flüchtlinge aus dem Süden arbeiten ebenfalls, und die Volkswirtschaften profitieren davon. Wir freuen uns, dass sich andere Länder unserer Position angeschlossen haben. Im Vorjahr wurde bei einem EU-Gipfel befunden, dass es keine verpflichtende Aufnahmequote geben soll. Man muss es freiwillig machen. Die gesamte Union ist also diesen Weg gegangen. Wir haben die Einladungspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel von Anfang an als Fehler betrachtet, und nun geben uns alle recht.

Offener zeigt sich Polen da für die EU-Erweiterung. Vergangene Woche richtete es eine Westbalkan-Konferenz aus. Wird es Länder wie Nordmazedonien unterstützen, die auf ein Datum für den Start von Beitrittsgesprächen warten?:

Ja, wir sind der Meinung, dass das europäische Projekt nicht vollendet werden kann, bevor die Staaten des Westbalkan der EU beigetreten sind. Wenn die Länder den Willen haben und unsere Werte teilen - und wir wissen, dass sie das tun -, sollten sie aufgenommen werden. Wir sehen die Erweiterung nicht als ein Problem an, anders als Länder wie Frankreich und die Niederlande. Diese gehören aber nicht zur Mehrheit. Polen hingegen befindet sich im politischen Mainstream.

Zur Person: Jacek Czaputowicz

ist seit Jänner 2018 Außenminister Polens. Der Politologe und langjährige Staatsbeamte übernahm das Amt als parteifreier Experte, steht aber der nationalkonservativen Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) nahe. Vor 1989 war er in der damals im Untergrund tätigen Opposition engagiert.