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Von der Bühne ins ukrainische Parlament

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Nachdem der Schauspieler Wolodymyr Selenskyj mit überwältigender Mehrheit zum ukrainischen Präsidenten gewählt wurde, wagt bei den Parlamentswahlen nun auch der Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk den Sprung in die Politik.


Kiew/Ternopil. In Ternopil, einer knapp 220.000-Einwohner-Stadt in Ostgalizien, ist eine große Bühne aufgebaut. Hier, auf dem Taras-Schewtschenko-Boulevard mit seinen prächtigen Fassaden und der hübschen Parkanlage, wo junge Paare mit ihren Kinderwägen über das Kopfsteinpflaster rattern und Männer Bier aus der Dose schlürfen. Als schon die Dämmerung über die Stadt hereinbricht, tritt der Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk auf die Bühne und ruft "Guten Abend, Ternopil!" in das Mikrofon. Aber nicht nur, um als Frontman der Band "Okean Elzy" das heutige Gratiskonzert anzustimmen. Sondern vor allem, um seine politische Partei vorzustellen: "Holos", das heißt übersetzt: "Stimme."

Es ist die Zeit der Entertainer in der ukrainischen Politik. Nachdem der Komiker Wolodymyr Selenskyj zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen haushoch gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko gewonnen hat, ist jetzt auch der Rocksänger Wakartschuk in die Politik eingestiegen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 21. Juli tritt der 44-jährige mit seiner neuen Partei an und tourt dieser Tage durch die Ukraine. "Tur smin", die "Tour der Veränderungen", mit einer Mischung aus Wahlkampfreden und Freiluftkonzerten.

Über die politischen Ambitionen des schlacksigen Musikers mit der rauen Stimme, der schon 2004 die Orange Revolution unterstützt hatte und danach sogar für ein Jahr als Unabhängiger im Parlament, der Werchowna Rada saß, war schon seit Jahren spekuliert worden. Vor einem Jahr lag der studierte Physiker (Spitzname: Slawa) in Umfragen noch gleichauf mit dem Komiker Selenskyj. Doch Wakartschuk zögerte mit seiner Kandidatur für das höchste Amt des Landes und ließ es am Ende doch bleiben. Viele Kritiker unken deswegen, Wakartschuk hätte sein Momentum schon verpasst. Doch jetzt will er es doch noch wissen: Erst vor wenigen Wochen stellte er seine Partei "Holos" vor, in Umfragen liegt sie derzeit bei rund acht Prozent und hat zumindest schon die Partei des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko ("Europäische Solidarität") überholt.

Zuerst ein Komiker, jetzt ein Rockstar? In der Ukraine könnten eben nur landesweit bekannte Stars ihre Message unter das Volk bringen, sagt Pawlo Kuchta. Am oligarchischen System vorbei, das neben der Wirtschaft und der Politik eben auch die Medien kontrolliert - quasi die Torwächter des korrupten Systems. Kuchta sitzt im Hauptquartier von "Holos", in einem schicken Großraumbüro mit großer Terrasse und Blick auf die Kiewer Innenstadt. Kuchta, Flinserl im Ohr und orange Hosen in der Farbe der Partei, hat als Programmdirektor maßgeblich die Wahlziele von "Holos" formuliert. Doch wofür steht die Partei? Pro Privatisierungen, pro unabhängige Institutionen, pro digitale Wirtschaft und eine Fortsetzung des pro-europäischen Kurses.

Keine Oligarchengelder

Kuchta selbst ist in der ukrainischen Polit-Szene freilich kein völliger Quereinsteiger. So hat er zuletzt Premierminister Wolodymyr Hrojsman beraten. Doch schnell sei er dort an die gläserne Decke des Systems gestoßen: "Ständig wird dir eingebläut: wenn es um Reformen geht, dann nur bis zu dieser Grenze und nicht weiter", sagt er. "Aber um wirklich Reformen durchzuführen, musst du gerade diese Grenzen hinter dir lassen." So hätte es seit 2014 zwar einige Veränderungen gegeben, aber keine, die den "wirklich dicken Fischen" weh getan hätten, sagt er. "Wir bringen neue Leute in das Parlament - aber ohne dubiose Verbindungen zu den Oligarchen." Eine Spitze gegen die neue Partei des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der ein Naheverhältnis zum einflussreichen Oligarchen Ihor Kolomojskyj nachgesagt wird. So soll Holos nicht mit Oligarchengeldern, sondern von Klein- und Mittelunternehmen sowie von Wakartschuk selbst finanziert worden sein.

Zumindest im Online-Auftritt sind sich Wakartschuk und der neue Präsident gar nicht so unähnlich. Wie der Ex-Komiker Selenskyj, der zuletzt Interviews im Fitnesscenter gab, so zeigt sich auch Wakartschuk gerne beim Yoga oder oben ohne nach dem Marathon. Doch anders als der Komiker hat Wakartschuk keine mediale Hausmacht. Zu Selenskyjs Wahlerfolg hat wohl maßgeblich der Sender 1+1 beigetragen, der Kolomojskyj gehört. Auf diesem Sender spielte die erfolgreiche Fernsehserie "Sluga Naroda", in der Selenskyj einen Geschichtslehrer mimte, der über Nacht zum Präsidenten gewählt wird.

Wakartschuk, dessen Band aus Lwiw (Lemberg) stammt, werden vor allem gute Chancen bei jungen Wählern in der Westukraine eingeräumt. Er fischt damit im Wählersegment des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko, der mit seinem Slogan "Armee, Sprache, Glaube" vor allem patriotische Wähler angesprochen hatte. "Wakartschuk ist ein Galizier und wird als ein typischer Vertreter aus der Westukraine gesehen", sagt der Politologe Balazs Jarabik - womit er freilich nicht im ganzen Land gut ankäme. "Zudem hat er sich schon in den vielen TV-Shows abgenutzt und konnte zuletzt nicht einmal die Frage nach dem durchschnittlichen Gaspreis in der Ukraine beantworten", so Jarabik.

Wakartschuk und sein Team brüsten sich indes mit einem strengen Kriterienkatalog für die Kandidatenliste: Unterstützung für die Werte des Maidan, keine Verbindungen zu Oligarchen oder dem ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. So finden sich auf der Parteiliste lauter Thirty-Somethings der ukrainischen Zivilgesellschaft: Anti-Korruptions-Aktivisten, Kriegsveteranen, IT-Unternehmer und bekannte Reformer. "Schauen Sie sich doch die Kandidatenliste an -lauter professionelle, anständige Leute", ist Weronika Djakowitsch, die die Partei als Freiwillige unterstützt, begeistert. "Wie wir die Partei entwickeln, das ist unsere Vision davon, wie wir die Ukraine entwickeln wollen."

Nicht alle sind begeistert

Das Konzert in Ternopil neigt sich dem Ende zu. Die Menge schunkelt zum familientauglichen Soft-Rock, den großen Hits wie "Bes boju" ("Kampflos"), "Skilki nas" ("Wie viele sind wir") und "Wse bude dobre" ("Alles wird gut"), und schwenkt ihre leuchtenden Smartphones. Doch längst nicht alle auf dem Platz sind so hellauf begeistert. Ein 61-jähriger Geschäftsmann aus Ternopil, der nur zufällig vorbei spaziert, schüttelt den Kopf. "Künstler sollten sich darauf beschränken, die Menschen zu unterhalten", sagt er. "Die Politik sollten sie lieber den Profis überlassen."