Zum Hauptinhalt springen

Freie Bahn für Selenskyj?

Von Gerhard Lechner und Viktoria Diadia

Politik

Bei den ukrainischen Parlamentswahlen am Sonntag ist die Partei des Präsidenten der große Favorit. Überraschend stark dürften auch die prorussischen Kräfte abschneiden.


Kiew/Moskau. Wolodymyr Selenskyj scheint ein Mann mit zwei Gesichtern zu sein. Der telegene Schauspieler mit der rauen Bassstimme, der im April mit eindrucksvollen 73 Prozent zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, ist einerseits ein geborener Charmeur. Ein Mann mit Witz und Esprit, der sich über viele Jahre als Komiker im gesamten russischsprachigen Raum einen Namen gemacht hat. Einer, gegen den man im Grunde nichts haben kann. Einer auch mit besten Absichten: Der 41-Jährige verkörpert für viele die nicht unbegründete Hoffnung auf eine europäisch orientierte Ukraine, die sich endlich von ihren alten, korrupten postsowjetischen und oligarchischen Eliten verabschiedet. Auf eine neue, junge Reformer-Elite. Und vor allem auch auf eine Politik, die die inneren Gegensätze des Landes heilen hilft.

Doch es gibt auch einen anderen Selenskyj. Einen, der auf den Putz haut. Einen, der seinen Untergebenen die Ohren langzieht. Wer die Fernsehserie "Diener des Volkes" gesehen hat, in der Selenskyj den Geschichtslehrer Wassyl Holoborodko spielt, der überraschend zum Präsidenten gewählt wird, bekommt eine Ahnung davon. Der unbestechliche Holoborodko reist durchs Land, trickst seine Gegner aus, die hinterlistigen Oligarchen. Wenn nötig, feuert er korrupte Gouverneure oder beschimpft sie vor laufender Kamera - eine Herrschaftstechnik, die im byzantinisch geprägten Osteuropa übrigens nichts Besonderes ist: Auch Russlands Staatschef Wladimir Putin oder der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko treten immer wieder, wenn sonst niemand helfen kann, vor laufenden Kameras als ultimative Problemlöser auf.

In den zwei Monaten, die seit seiner Wahl vergangen sind, bemühte sich Selenskyj, in seinem Auftreten seinem Fernseh-Präsidenten möglichst nahe zu kommen: Auch der echte Selenskyj reist, wenn er nicht gerade Brüssel, Paris oder Berlin besucht, durchs Land, taucht in Spitälern und Fabriken auf, sieht nach dem Rechten, greift ein, fragt, klärt Verantwortungen, rüffelt, erteilt Befehle. Und kommuniziert per YouTube mit dem Volk: "Hoffnungslos" sei seine Diagnose, was die bisherige politische Elite der Ukraine betrifft. Er könne seine Gefühle nicht in anständige Worte fassen. "Wofür brauchen wir Abgeordnete, die illegale Bereicherung rechtfertigen oder Straßen nur in ihren Facebook-Profilen bauen?", fragt Selenskyj erzürnt.

Prorussische Partei auf Platz 2

Der Stil, den der neue Präsident pflegt, kommt an. Am Sonntag finden in der Ukraine Parlamentswahlen statt, und Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" - der Name ist der gleiche wie der der Fernsehserie - liegt in Umfragen uneinholbar weit in Front. 44,4 Prozent der Wähler würden sich derzeit - so eine aktuelle Umfrage des renommierten Kiewer Rasumkow-Zentrums - für die komplett neue Gruppierung entscheiden, die bis vor kurzem nur auf dem Papier existierte.

Sie läge damit weit vor der "Oppositionsplattform für das Leben", die bei 13,3 Prozent landen würde. Sie wird vom umstrittenen Putin-Intimus Wiktor Medwedtschuk geleitet, gegen den in der Ukraine immer noch ein Verfahren wegen Verrats und Begünstigung von Separatismus läuft.

Selenskyjs Taktik geht auf

Erst deutlich hinter dieser prorussischen Gruppierung liegen die Reste der alten Etablierten: Die Gruppierungen "Vaterland" von Ex-Premierministerin Julia Timoschenko (8,5 Prozent) und "Europäische Solidarität" von Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko (7,5 Prozent) kämen, wenn die Umfrage das Wahlverhalten der Ukrainer korrekt abbildet, nur noch auf unter zehn Prozent. Dort befindet sich auch die neue Gruppierung "Stimme" des Lemberger Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk (6,8 Prozent), die vor allem in Poroschenkos westukrainischer, betont patriotischer Wählerschaft wildern könnte. Der Volksfront, bisher zweitstärkste Kraft, und zahlreichen anderen Gruppierungen werden keine Chancen auf einen Einzug in die Rada zugebilligt.

Selenskyjs Überrumpelungstaktik scheint also aufzugehen: Gleich nach seiner Inauguration löste er die Rada auf und setzte dann Parlaments-Neuwahlen noch im Juli durch. Selenskyj wollte nach seinem Triumph im April das politische Momentum für sich nutzen, ehe die Mühen der Ebene die Liebe der Ukrainer zu ihm abkühlen lassen.

Für den Schauspieler war die Auflösung des Parlaments wichtig: Denn anders als in anderen postsowjetischen Staaten ist die Macht eines ukrainischen Präsidenten ziemlich begrenzt. So kann der Staatschef der Rada zwar den Premier-, Verteidigungs- und Außenminister vorschlagen. Dann muss aber die Bestätigung durch das Parlament erfolgen. Ein oppositionelles Parlament kann den Präsidenten also ziemlich wirksam blockieren. Das wiederum wäre nicht nur für Selenskyjs Politik, sondern auch für sein Image in der Öffentlichkeit fatal: Denn für Wohl und Wehe im Land ist in der öffentlichen Meinung immer noch der Präsident letztverantwortlich - obwohl er etwa für die Wirtschaftspolitik gar nicht zuständig ist, werden ihm auch steigende Gaspreise angekreidet. Ein Präsident, der sich "nicht zuständig" erklärt, ist schlicht ein schwacher Präsident.

Ein solcher dürfte Selenskyj nach der Wahl am Sonntag nicht werden - auch wenn sich eine absolute Mehrheit für "Diener des Volkes", die eine Zeit lang möglich schien, letztlich doch nicht ausgehen dürfte. Dies auch deshalb, weil seine Partei zwar bei den Zweitstimmen stark abschneiden wird, aber nur über wenig zugkräftige und bekannte Kandidaten für die Erststimmen verfügt. Ein großer Teil der Rada wird nämlich über Direktmandate besetzt - und da kommen meist lokale Unternehmer zum Zug, die sich vor Ort verdient gemacht, also etwa eine Schule gebaut haben. Der Lohn für den Einsatz für die Allgemeinheit ist nicht nur die Bekanntheit als Abgeordneter, sondern auch die parlamentarische Immunität, die vor Strafverfolgung schützt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Selenskyj einen Koalitionspartner braucht, ist also groß - aber wen? Eine Allianz mit seinem Gegner Poroschenko ist kaum denkbar. Eine mit der Oppositionsplattform wäre mehr als nur ein Wagnis: Zwar wünschen sich in Umfragen die meisten Ukrainer - das sind in dem Fall knapp 13 Prozent - den prorussischen Politiker Juri Bojko als Premierminister. Dies wohl auch, weil die Sehnsucht nach Frieden mit Russland mittlerweile übergroß ist, vor allem in den Gegenden nahe der Front. Eine Allianz mit Bojko würde aber im Westen des Landes und bei den ukrainischen Nationalisten wohl als eine Art Kriegserklärung angesehen werden. Auch die Unterstützer Kiews in Brüssel und Washington wären alles andere als angetan.

Timoschenko bietet sich an

Bleiben also wohl nur Timoschenko oder - wenn er den Einzug in die Rada schafft, wonach es aussieht - Wakartschuk. Erstere hat sich Selenskyj schon lange als Alliierte angeboten, wäre aber wohl alles andere als ein Signal für Erneuerung und Aufbruch. Letzterer schon: Auf der Liste von "Stimme" finden sich viele junge Reformer - ganz wie (zum Teil) auch bei "Diener des Volkes".

Im Optimalfall könnte also eine Koalition aus jungen Reformern die Ukraine regieren. Freilich nur im Optimalfall. Denn bei Selenskyjs Gruppierung sind - neben alten Geschäftsfreunden des Präsidenten aus dem Showbusiness - auch Leute aus dem Umfeld des Oligarchen Ihor Kolomojski dabei, zu dem Selenskyj gute Kontakte pflegt. Etwa Andrij Bogdan, der auch schon in der Präsidialadministration des gestürzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch gearbeitet hat. Im Mai ernannte ihn Selenskyj zum Leiter seiner Administration, obwohl Bogdan eigentlich unter das - international nicht unumstrittene - ukrainische Lustrationsgesetz fällt, das ehemaligen Mitarbeitern Janukowitschs für zehn Jahre den Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehrt. Selenskyj umging das Gesetz, indem er die Präsidialverwaltung schloss und stattdessen ein Präsidialamt schuf.

Der Staatschef will dieses Gesetz übrigens ausweiten: Auch Poroschenko und sein Team sollen, so ein Gesetzesvorschlag Selenskyjs, unter das Lustrationsgesetz fallen. Kritiker sehen darin einen Versuch, den politischen Gegner auszuschalten, ja einen möglichen ersten Schritt in Richtung eines autoritären Staats. Selenskyjs Leute verweisen darauf, dass auch ihre eigenen Mitarbeiter unter das Gesetz fallen würden.