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Selenskyjs Triumph birgt ein hohes Absturzrisiko

Von Gerhard Lechner

Politik

Die Präsidentenpartei "Diener des Volkes" holt in der Ukraine überraschend die absolute Mehrheit. Damit lädt sie sich auch eine Bürde auf.


Kiew. Es scheint fast eine Art dritte Revolution zu sein, die am vergangenen Sonntag in der Ukraine stattgefunden hat, nur dass sie sich - nach der Orangen Revolution 2004 und dem blutigen Euromaidan 2014 - diesmal an den Wahlurnen vollzogen hat: Die Partei "Diener des Volkes" von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bei den Parlamentswahlen am Sonntag offenbar die absolute Mehrheit errungen.

Es ist dies ein beispielloser Triumph: Noch nie seit der Unabhängigkeit 1991 hat es eine Partei geschafft, auch nur die 40-Prozent-Hürde zu überspringen - wie es "Diener des Volkes" bei den Zweitstimmen gelungen ist. Der Umstand, dass die Kandidaten der Präsidentenpartei laut Prognosen auch bei den Erststimmen, also den Direktkandidaten, überraschend gut abgeschnitten haben, dürfte ihr die absolute Mehrheit beschert haben. Mehr als 240 von 424 Abgeordneten soll "Diener des Volkes" in Zukunft im Parlament laut eigenen Angaben stellen. Dabei hatten Beobachter gerade die Direktkandidaten als die Schwachstelle der neu gegründeten, aus dem Nichts geschaffenen Präsidentenpartei ausgemacht - weil für die Selenskyj-Truppe keine Zeit mehr geblieben sei, zugkräftige Persönlichkeiten zu finden. Ein großer Teil der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, wird über Direktmandate besetzt.

Austausch der Eliten

In der Ukraine wird damit ein gänzlich neues Kapitel aufgeschlagen. Denn das Ergebnis der Wahl ist eindeutig: Die alten Eliten, die die Politik seit den 1990er Jahren bestimmt haben, wurden abgewählt. Neben Selenskyjs Partei schaffte noch eine weitere Gruppe aus Neulingen - die prowestlich-liberale Partei "Stimme" des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk - mit über sechs Prozent den Sprung in die Rada. Am Sonntagabend, als von einer Absoluten noch keine Rede war, hatte Selenskyj Wakartschuk bereits Verhandlungen über eine Koalition angeboten.

Zweitstärkste Partei wurde mit rund 13 Prozent übrigens die russlandfreundliche "Oppositionsplattform" - und das, obwohl sie im prorussischen Lager mit dem "Oppositionsblock" einen Konkurrenten hatte, der ihr Stimmen wegnahm. Die bisher prägenden Parlamentsparteien wie Ex-Präsident Petro Poroschenkos "Europäische Solidarität" oder Julia Timoschenkos Gruppe "Vaterland" kamen mit rund acht Prozent nur auf ein einstelliges Ergebnis.

Damit hat sich in Kiew ein in diesem Ausmaß unerwarteter Generationswechsel vollzogen. Die Kandidaten, die für Selenskyjs Partei in die Rada einziehen werden, sind keine erfahrenen Politiker. Es handelt sich, von ein paar Ausnahmen abgesehen, durch die Bank um Quereinsteiger, die erst kürzlich "gecastet" worden waren. Für "Diener des Volkes" kandidierte kein einziger aktueller Parlamentarier oder höherer Amtsträger. Das erinnert - wie eigentlich so ziemlich alles an Selenskyj bisher - an seine TV-Serie, wo er als Präsident mit einer Truppe unerfahrener Amateure unter Zuhilfenahme eines mit allen Wassern gewaschenen Ex-Premiers den ausgekochten Oligarchen und der etablierten Politik das Fürchten lehrt. Es erinnert aber auch an Selenskyjs Ausspruch noch vor der Bekanntgabe seiner Kandidatur, als er auf offener Bühne darüber nachdachte, ob er antreten solle oder nicht. Und seine mangelnde Erfahrung in der korrupten ukrainischen Politik als Pluspunkt anführte.

Wundertüte Selenskyj

Nun beginnt allerdings das Bohren ziemlich harter Bretter. Selenskyj, der bisher mächtigste Präsident seit 1991, muss jetzt "liefern", muss die oft überzogenen Erwartungen an ihn als Heilsbringer, die er mit seiner TV-Serie selbst genährt hat, erfüllen. Das Absturzrisiko ist dabei sehr hoch, denn: Enttäuschungen werden unvermeidlich sein, und ob Selenskyjs bunt zusammengewürfelte Amateurtruppe im Parlament auch bei Gegenwind zusammenhält, ist - vorsichtig formuliert - offen. So offen wie die Frage, welche Politik die Wundertüte Selenskyj denn nun wirklich verfolgen wird. Einerseits hat er eine Menge junger Reformer um sich geschart. Das lässt hoffen, dass die bisher immer versandeten Reformanstöße endlich umgesetzt werden.

Dem entgegen steht - vielleicht -Selenskyjs Populismus. In seiner TV-Serie wird oft recht hemdsärmelig verhaftet, wird ein korrupter Staat mit rabiaten Methoden auf Vordermann gebracht. Das könnte durchaus Vorbild für Selenskyjs Politik sein: Eine Gesetzesinitiative, die er vor der Wahl eingebracht hat, sieht vor, das (umstrittene) Lustrationsgesetz, das Mitarbeitern von Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch für zehn Jahre den Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehrt, auch auf alle Mitarbeiter Poroschenkos auszuweiten. Der Grund? Die verbreitete Korruption. Kritiker sehen darin einen Versuch, den politischen Gegner auszuschalten. Mit der absoluten Mehrheit hätte Selenskyj jetzt die Möglichkeit, solche Gesetze durchzubringen - solange sie für verfassungskonform befunden werden.