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Der Unberechenbare

Von Siobhán Geets

Politik

Boris Johnson muss um sein Amt fürchten, noch bevor er es überhaupt angetreten hat: Seine eigenen Tories könnten dabei helfen, ihn zu stürzen. Um an der Macht zu bleiben, könnte der neue britische Premier sogar Neuwahlen ausrufen.


London/Wien. Die nächsten Tage werden noch einmal besonders schmerzhaft für Theresa May. Am Mittwoch muss sie sich ein letztes Mal den Fragen der Abgeordneten im Unterhaus stellen. Danach wird sie in den Buckingham Palast fahren, um der Queen ihren Rücktritt mitzuteilen - und Boris Johnson als neuen Premier vorzuschlagen. Dass der 77. britische Premier Boris Johnson heißen wird, daran zweifelt kaum jemand. Ihm trauen die Tories zu, woran May gescheitert ist: Der EU die Stirn zu bieten und den Brexit durchzuziehen, enttäuschte Wähler zurückzuholen und den Sozialisten Jeremy Corbyn bei Neuwahlen zu schlagen.

In der Parteibasis ist Johnson ein Star. Am Dienstag wird bekannt gegeben, ob die rund 160.000 Mitglieder ihn als Premier wollen oder doch Außenminister Jeremy Hunt. Am Mittwoch wird Johnson wohl angelobt werden. Dass die Queen seine Ernennung zum Premier verweigert, ist unwahrscheinlich. Dabei muss der Konservative sie davon überzeugen, eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich zu haben - was schwierig werden dürfte. Die Tories sind gespalten, die Proeuropäer unter ihnen lehnen Johnson entschieden ab.

Johnson soll aufräumen

Der Führungswechsel in London trifft das Land inmitten seiner größten politischen Krise seit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg vor 80 Jahren. Die beiden großen Parteien, die konservativen Tories und die sozialistische Labour, haben sich über dem Brexit zerrieben, ein glaubwürdiges Narrativ sucht man umsonst. Davon profitiert die Brexit-Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage. Sie nutzt die Wut der Menschen auf das Chaos im Land, auf die Brexit-Verschiebungen und das Herumlavieren der Politiker.

Damit soll Johnson nun Schluss machen. Der frühere Außenminister will sein Land am 31. Oktober aus der EU führen - ob mit oder ohne Austrittsabkommen mit Brüssel. Der Brexit, verspricht er, wird schon nicht so schlimm werden. Seinem Versprechen, einen besseren Deal auszuhandeln, steht zwar die Haltung Brüssels im Weg, das Austrittsabkommen nicht mehr aufzuschnüren. Doch Fakten spielen keine Rolle. In einem Interview mit der BBC behauptete Johnson, man könne die Details des EU-Austritts, darunter die Bürgerrechte, in der Übergangsphase nach dem Brexit regeln. Dabei gibt es bei einem Austritt ohne Abkommen gar keine Übergangsphase, in der alles bleibt, wie es ist. Doch mit solchen Details hält sich Johnson nicht auf.

Bei den Konservativen hat er damit den richtigen Nerv getroffen, eine Mehrheit von ihnen würde für den Brexit alles in Kauf nehmen: Den wirtschaftlichen Schaden, die endgültige Spaltung der Partei, den Zerfall des Königreichs und sogar eine Machtübernahme der Opposition. Für die konservative Basis gibt es nur ein Ziel: Hauptsache Brexit, egal wie.

Mit der aktuellen Regierung ist das kaum zu machen, Johnson wird sein Kabinett umbauen müssen. Einige Minister haben bereits ihren Rücktritt angekündigt, Finanzminister Philip Hammond und Justizminister David Gauke wollen ihre Ämter unter einem Premier Johnson abgeben. Staatssekretär Alan Duncan ging am Montag, Entwicklungshilfeminister Rory Stewart könnte folgen.

Selbst, wenn Johnson alle Ämter mit Brexiteers besetzt, dürfte es schwer werden, einen EU-Austritt ohne Abkommen durchzuboxen. Das Parlament wehrt sich gegen eine kurzfristige Suspendierung, wie Johnson sie angedroht hat. Und einige Tory-Abgeordneten drohen damit, Johnson unmittelbar nach seiner Angelobung zu stürzen. Viel bräuchte es dafür nicht: Im Unterhaus verfügen die Konservativen über eine Mehrheit von gerade einmal drei Stimmen.

Doch Johnson könnte auch von sich aus Neuwahlen ausrufen. Einen Urnengang vor dem 31. Oktober bezeichnet er zwar als "absoluten Wahnsinn". Doch könnten sie angesichts einer weiteren Brexit-Verschiebung ohne die Aussicht auf eine Lösung das geringere Übel darstellen. Verhilft Johnson der Partei wieder zu einer stabilen Mehrheit, dann hätte er nicht nur ein starkes Mandat als Regierungschef. Die Konservativen könnten dann auch die lästige DUP loswerden. Seit den Neuwahlen von 2017 sind die Tories auf die Unterstützung der zehn Abgeordneten aus Nordirland angewiesen. Als Königsmacherin spielt die DUP im Brexit-Streit eine größere Rolle, als ihr eigentlich zusteht.

Zankapfel Backstop

Dass der "Backstop" zum größten Problem in den Brexit-Verhandlungen geworden ist, liegt hauptsächlich an der DUP. Die Notfallsklausel zur Verhinderung von Grenzkontrollen in Irland sieht vor, dass Nordirland im Binnenmarkt der EU bleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist. Doch die Protestanten von der DUP lehnen jede Art von Sonderbehandlung für Nordirland ab, weil sie fürchten, von Großbritannien isoliert zu werden. Zwar poltert auch Johnson gegen den Backstop. Doch ist durchaus denkbar, dass er einem Verbleib Nordirlands im Binnenmarkt zustimmt - und einen folgenschweren No-Deal-Brexit abwendet - sobald seine Regierung nicht mehr auf die DUP angewiesen ist.

Noch mag dieses Szenario absurd wirken. Immerhin hat Johnson mit den Fake News, die er als Brüssel-Korrespondent des Daily Telegraph verbreitet hat, die EU-feindliche Stimmung im Land zumindest mitbegründet. Im kleinen Kreis hat er die EU und ihre Errungenschaften aber immer wieder verteidigt. Die Entscheidung, die Leave-Kampagne zu unterstützen, traf er nur vier Monate vor dem Referendum von 2016. Vor Kollegen gestand er damals, "dummerweise gar nicht für den Austritt" zu sein.

Mit einem Premier Boris Johnson ist alles möglich, auch eine Wende um 180 Grad. Es wäre nicht seine erste.