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Showdown in Westminster

Von Siobhán Geets

Politik
Die Gegner des No-Deal-Brexit im Unterhaus stehen vor der Entscheidungsschlacht gegen Johnson.
© reu

In London herrscht Chaos. Parlament und Regierung kämpfen um die Kontrolle im Brexit-Streit, diese Woche ist entscheidend. Wie könnte es weitergehen? Einige Szenarien.


London. Die Abgeordneten sind zurück aus der Sommerpause - und der Showdown zwischen dem britischen Parlament und der Regierung ist eingeläutet. Premier Boris Johnson will sein Land um jeden Preis am 31. Oktober aus der EU führen. Doch die Mehrheit der Abgeordneten will einen Brexit ohne Austrittsabkommen verhindern. Bereits am Mittwoch wollen sie ein Gesetz auf den Weg bringen, das Johnson zwingen würde, den EU-Austritt um drei Monate zu verschieben.

Kann ein No-Deal-Brexit am 31. Oktober verhindert werden?

Weil Johnson das Parlament für einen Monat in die Zwangspause schickt, müsste das Gesetz noch diese Woche durchgehen. Verhindert werden könnte das im Oberhaus: Die Brexit-Verfechter unter den Lords drohen mit Dauerreden, damit keine Zeit bleibt, um das Verfahren abzuschließen. Es wird also wohl auch am Wochenende Parlamentssitzungen brauchen. Geht das Gesetz durch, dann will Johnson für den 14. Oktober Neuwahlen ausrufen. Dafür braucht er eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, doch Johnson hat dort nicht einmal eine Mehrheit: Am Dienstag wechselte der Tory-Abgeordnete Philip Lee zu den Liberaldemokraten.

Wird die Opposition sein Vorhaben unterstützen?

Normalerweise begrüßt die Opposition Neuwahlen. "Doch sie vertraut Johnson nicht", sagt die britische Politologin Melanie Sully. "Die Opposition will ihr Gesetz durchbringen, bevor sie Neuwahlen akzeptiert." So will Labour dem vorgezogenen Urnengang nur zustimmen, wenn der Brexit verschoben wird, um einen EU-Ausstieg ohne Vertrag zu vermeiden. Der "Fixed-term Parliaments Act" von 2011 schreibt vor, dass es für Neuwahlen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament braucht. "Doch Johnson könnte versuchen, dieses Gesetz zu novellieren, damit er nur noch eine einfache Mehrheit braucht", sagt Sully.

Das klingt nach purer Trickserei. Ist Johnson
das zuzutrauen?

Es wäre nicht das erste Mal, dass der Tory-Chef das Selbstverständnis der britischen Demokratie übergeht. Dass er das Parlament in einer so heiklen Phase in die Zwangspause schickt, ist alles anderes als üblich. "Es ist ein brutaler Machtkampf zwischen Parlament und Regierung", sagt Sully, "mit allen möglichen Tricks." Weder die Opposition noch Johnson hielten derzeit die Konventionen ein, die seit Jahrhunderten funktionierten: "Es herrscht Anarchie."

Könnte Johnson das
Gesetz gegen den No-Deal-Brexit wieder tilgen?

Geht das Gesetz jetzt durch, dann gilt es auch nach etwaigen Neuwahlen. Aber: Johnson will den EU-Austritt seines Landes "unter keinen Umständen" noch einmal verschieben. Er könnte das Gesetz einfach ignorieren, wie einige Minister das angedeutet haben. Das wäre zwar bar jeder Rechtsgrundlage, aber denkbar ist es. Theoretisch kann Johnson das Gesetz auch wieder abschaffen. Dafür bräuchte es allerdings einige Wochen Zeit - und eine einfache Mehrheit im Parlament. Wann sich dieses nach den Neuwahlen wieder konstituiert, bestimmt zwar Johnson. Improvisieren kann er dabei aber nicht: Der Premier muss gleich nach der Auflösung des alten Parlaments festlegen, wann es wieder zusammenkommen soll. Normalerweise kehren die Abgeordneten rund zwei Wochen nach der Wahl nach Westminster zurück. Theoretisch könnten sie das Gesetz dann wieder rückgängig machen. "Ob Johnson das tut, hängt davon ab, wie gestärkt er aus den Wahlen hervorgeht", so Sully.

Zudem könnte der Premier nach den Wahlen von der Brexit-Partei Nigel Farages abhängig sein. "Es wird Verhandlungen geben, Farage wird Bedingungen stellen." Zu bedenken sei dabei, dass viele Briten den Brexit nicht noch einmal verschieben wollen.

Würde Brüssel dem
Antrag auf Verschiebung überhaupt zustimmen?

Die 27 EU-Staaten müssten dem Gesuch einstimmig stattgeben - und Frankreich hatte sich schon im April zunächst gegen die damalige Fristverlängerung gestellt. Die Frage ist auch, wozu die Verschiebung überhaupt dienen soll. Bisher kamen keine neuen Vorschläge aus London. Allerdings würde ein No-Deal-Brexit auch der EU schaden - und die verbleibenden Mitgliedstaaten wollen die Verantwortung dafür nicht auf sich laden.

Wird die Tory-Fraktion nach den Wahlen nach rechts rücken?

Bisher war eine Mehrheit der Abgeordneten im britischen Unterhaus gegen einen harten Bruch mit der EU. Doch Johnson will die Tory-Rebellen, die für das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit stimmen, bei den Wahlen nicht mehr antreten lassen. Entscheidend dafür, wer für die Konservativen kandidiert, ist aber vielmehr, was sich in den Wahlkreisen abspielt. So steht der Wahlkreis des ehemaligen Schatzkanzlers Philip Hammond, der mittlerweile offen gegen Johnson kämpft, hinter ihm. Dass Hammond wieder kandidiert, kann der Tory-Chef also kaum verhindern. In anderen Wahlkreisen könnte es aber sein, dass die Partei ihre "Rebellen" nicht mehr unterstützt oder das Feld überhaupt der Brexit-Partei überlässt. "Konservative und Brexit-Partei könnten informelle Pakte eingehen", sagt Sully. In diesem Fall würden sich die Machtverhältnisse im britischen Parlament zugunsten einer antieuropäischen Mehrheit ändern.

Johnson wollte Neuwahlen erst nach dem Brexit. Was ist nun seine Strategie?

Neuwahlen nach dem 31. Oktober waren das Ziel, doch die Opposition hat das beschleunigt. "Johnson und sein Team haben sich über den Sommer auf alle möglichen Szenarien vorbereitet", sagt Sully. Johnson sei nicht der Politclown, für den ihn viele halten. Unter seinen Beratern sind nicht nur Hardcore-Brexiteers wie der Chef der Vote-Leave-Kampagne Dominic Cummings, sondern auch echte Experten. Sully: "Die Regierung ist nicht in Panik verfallen, das ist alles durchdacht." Für die Opposition gelte das allerdings nicht.

Die Opposition will den Brexit noch einmal
verschieben. Und dann?

Das ist die Frage. Will man lediglich mehr Zeit, um das Austrittsabkommen mit Brüssel neu zu verhandeln, ein neues Referendum oder gar einen Rückzug vom Brexit? Die Opposition ist gespalten. Einig ist sich das Parlament lediglich in der Frage, was es nicht will: einen EU-Austritt ohne Abkommen. Im Gegensatz dazu sind sich Johnson und seine Leute sicher: Sie wollen den Brexit am 31. Oktober. "Doch die Opposition hat noch ein paar Karten in der Hand", sagt Sully. Die wird sie in den kommenden Tagen ausspielen - auch, wenn nicht klar ist, wohin die Reise führt.