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Niederlagen machen Johnson noch unberechenbarer

Von Siobhán Geets

Politik
Unterschrieben hat Johnson beim irischen Premier Varadkar (l.) in Dublin lediglich das Gästebuch.
© reu

Dem britischen Premier gehen die Optionen aus. Um sein Versprechen zu halten und sein Land rasch aus der EU zu führen, könnte Johnson die DUP opfern - und den Protestanten aus Nordirland in den Rücken fallen.


Dublin/London. Bei seinem Besuch in Dublin klang Boris Johnson plötzlich ganz anders. Ein EU-Austritt ohne Abkommen wäre "ein politisches Versagen, für das wir alle verantwortlich wären", sagte der britische Premier bei der Pressekonferenz mit seinem irischen Amtskollegen Leo Varadkar. Wenige Tage zuvor hatte er noch gepoltert, lieber "tot im Graben" liegen zu wollen, als bei der EU um eine Verschiebung des Brexit anzusuchen.

Sicher ist: Johnson will sein Land am 31. Oktober aus der EU führen. Wie er einen Austritt ohne Abkommen verhindern will, noch dazu in so knapper Zeit, ist völlig unklar. Knackpunkt ist nach wie vor der Backstop - und bisher hat Johnson keine einzige Alternative dazu auf den Tisch gelegt. Auch nach Dublin kam er mit leeren Händen. "Wir haben bis heute keine Vorschläge erhalten", sagte Varadkar. Und: "Gibt es keinen Backstop, kommt das einem Austritt ohne Abkommen gleich."

London lehnt den Backstop ab, für Dublin ist die Notfalllösung aber der einzige Weg, eine harte Grenze in Irland zu verhindern. "Wir werden keine Grenzkontrollen einführen und hoffen, dass die EU das auch nicht macht", sagte Johnson am Montag. Nur: Schlittert das Vereinigte Königreich ohne Abkommen aus der EU, dann muss Dublin an der Grenze zu Nordirland Kontrollen einführen. Ansonsten könnte die irische Grenze zur Hintertür für Produkte aus Drittstaaten werden - und Brüssel muss den europäischen Binnenmarkt schützen.

Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien in der Zollunion der EU und Nordirland im europäischen Binnenmarkt bleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist. Doch das lehnen die Abgeordneten in London ab, weil die britische Regierung in dieser Zeit keine neuen Handelsabkommen mit Drittstaaten vereinbaren könnte. Das Unterhaus will aber auch einen Austritt ohne Abkommen verhindern. Deshalb haben die Abgeordneten ein Gesetz beschlossen, das Johnson zwingt, in Brüssel um eine Verschiebung des Brexit anzusuchen, sollte bis zum 19. Oktober kein neues Austrittsabkommen mit der EU auf dem Tisch liegen.

Waghalsige Spekulationen, Spiel auf Zeit

Damit hat sich das Blatt gewendet, Johnson sitzt nun am kürzeren Ast. Zwar könnte er das Gesetz wieder rückgängig machen, wenn er nach Neuwahlen wieder über eine stabile Mehrheit im Parlament verfügt. Doch sein Plan, den Urnengang am 15. Oktober abzuhalten, scheint gescheitert. Dafür braucht Johnson eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Unterhaus, doch die Opposition weigert sich - sie traut dem Premier nicht und will einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober ausschließen, bevor sie Neuwahlen zustimmt.

Bleibt nun auch die EU beim Backstop hartnäckig, muss Johnson um eine Verschiebung des Brexit bitten - zumindest theoretisch. Faktisch hat der britische Premier den Pfad der vorhersehbaren und verfassungskonformen politischen Vorgehensweise längst verlassen. Boris Johnson ist zur Unbekannten in der Brexit-Rechnung geworden, entsprechend waghalsig sind die Spekulationen darüber, was als nächstes passieren könnte. Denkbar ist etwa, dass er das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit einfach ignoriert. Zwar würde der 55-Jährige damit riskieren, im Gefängnis zu landen, die Angelegenheit würde jedenfalls vor Gericht enden. Doch könnte Johnson darauf spekulieren, dass sich der Rechtsstreit hinzieht, bis das Vereinigte Königreich am 31. Oktober automatisch aus der EU fliegt.

Um Neuwahlen zu erzwingen, bleiben Johnson zwei Optionen: Entweder er tritt zurück - was ihn zum am kürzesten amtierenden Premier aller Zeiten machen würde. Oder er bringt einen Misstrauensantrag gegen seine eigene Regierung auf den Weg. Ginge dieser durch, hätte die Opposition allerdings die Möglichkeit, innerhalb von zwei Wochen eine Übergangsregierung auf die Beine zu stellen. Ob es Labour-Chef Jeremy Corbyn gelingt, eine solche zu formieren, ist zwar fraglich. Doch kann Johnson dieses Risiko kaum eingehen.

Wie kommt der Premier also aus dieser Falle heraus? Eine Lösung könnte ihren Anfang ausgerechnet im Verlust seiner parlamentarischen Mehrheit nehmen.

Die Hardliner unter den Tories wehren sich gegen den Backstop, weil das Königreich keine neuen Handelsverträge vereinbaren darf, solange es in der Zollunion der EU ist. Mit Drittstaaten verhandeln könnte London nur, wenn lediglich Nordirland im Binnenmarkt der EU bliebe. Das war auch der ursprüngliche Vorschlag Brüssels: Der Backstop soll nur für die britische Provinz gelten, Kontrollen finden auf der Irischen See statt, also zwischen Großbritannien und Irland. Doch dagegen wehrte sich die nordirische DUP, von deren Unterstützung die Tory-Minderheitsregierung angewiesen war - bis jetzt, denn seit vergangener Woche ist Johnsons Mehrheit im Unterhaus sowieso dahin. Damit hat die DUP ihre Bedeutung für die Tories verloren.

Kontrollen auf derIrischen See wieder denkbar

Kaum war seine Mehrheit weg, kramte Johnson einen alten Vorschlag hervor: Für landwirtschaftliche Produkte sollten nach dem Brexit in Nordirland die selben Regeln gelten wie im Süden der Insel - ein Ansatz, der zuvor an der DUP gescheitert war. Dublin winkte ab, die Idee könne den Backstop nicht ersetzen. Doch der Vorschlag eines Sonderstatus für Nordirland ist zumindest ein Anfang. Mit der DUP wären Grenzkontrollen auf der Irischen See, also zwischen Irland und Großbritannien, undenkbar gewesen.

Sind die Tories nicht mehr auf die Unionisten aus Nordirland angewiesen, könnten diese schnell unter die Räder kommen. London hat die britische Provinz jenseits der Irischen See schon immer stiefmütterlich behandelt. Und auch dem durchschnittlichen Tory-Wähler dürften die Nordiren ziemlich egal sein. Ist die DUP nun irrelevant für die Mehrheitsbeschaffung in Westminster, könnte Johnson womöglich auch die Brexit-Hardliner in seiner Partei überzeugen, die Interessen der nordirischen Unionisten einem reibungslosen EU-Austritt zu opfern. Den Brexiteers dürften die Alternativen noch weniger gefallen: Eine weitere Verschiebung des Brexit - oder ein möglicher Premier Jeremy Corbyn.