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"Keine Absicht, Nordsyrien zu okkupieren"

Von Martyna Czarnowska

Politik
Europa, der Westen sei zu langsam, meint Faruk Kaymakci.
© Franz Neumayr/IRE

Der türkische Vize-Außenminister Faruk Kaymakci rechtfertigt die Pläne zur Errichtung einer sicheren Zone nahe der türkischen Grenze. Damit würde die Türkei nicht zuletzt dazu beitragen, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten.


"Wiener Zeitung": Die USA wollen sich aus dem syrischen Grenzgebiet zur Türkei zurückziehen. Was bedeutet das für die türkischen Pläne, dort eine Sicherheitszone einzurichten?

Faruk Kaymakci: Die Grenze zur Türkei ist auch die Grenze zu Europa und zur Nato. Seit 2011 gibt es in Syrien einen Bürgerkrieg, wodurch Millionen Menschen vertrieben wurden. Wegen des Machtvakuums entstanden dort viele Terrororganisationen wie IS, Al-Nusra, aber auch die kurdische YPG, die im Grunde mit der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) verbündet ist. Da das syrische Regime nicht für Sicherheit sorgen kann und stattdessen die Bevölkerung zur Flucht zwingt, entstehen für uns zwei große Probleme. Das eine betrifft eben Sicherheit, das andere irreguläre Migration Richtung Europa.

Lösen eine Militäroffensive und eine sichere Zone beide Probleme?

Die Einrichtung einer solchen Zone schlägt die Türkei seit Kriegsbeginn 2011 vor - damit Binnenflüchtlinge in ihrem Land bleiben können. Außerdem haben wir die internationale Gemeinschaft darauf hingewiesen, dass wir zusammen Terrororganisationen daran hindern sollten, im Norden Fuß zu fassen. Leider haben unsere Freunde und Partner 2011 nicht auf uns gehört, und seit damals haben wir 3,7 Millionen Syrer aufgenommen. Eine weitere Million Menschen haben wohl den Rest Europas erreicht. Hinzu kommen die Terroranschläge, die wir in vielen Teilen Europas erleiden mussten, inklusive der Türkei. Nun sehen wir, dass Europa, der Westen langsam ist - im Kampf gegen Terrorismus, aber auch im Vorgehen gegen irreguläre Migration. Wir sind aber mit der Situation konfrontiert und können nicht länger warten. Die Türkei und die USA haben lange Zeit verhandelt, und auch die US-Administration hat eingesehen, dass wir eine sichere Zone brauchen. Daher hat das Weiße Haus schon eine Stellungnahme zur türkischen Operation abgegeben. Und dass sich die USA zurückziehen, hat Präsident Donald Trump Präsident Recep Tayyip Erdogan versprochen.

Die Türkei kann nun also im Norden Syriens die Kontrolle übernehmen?

In der Region operieren die USA, Frankreich und einige andere Länder. Warum wird da die türkische Präsenz hinterfragt? Es ist unsere unmittelbare Nachbarschaft.

Die Türkei wäre dann aber die einzige Macht dort.

Das ließe sich von den USA bisher auch sagen. Diese arbeiten vielleicht mit anderen zusammen, aber hauptsächlich agieren sie.

Wie geht es nun weiter?

Wir wollen zunächst das Gebiet von terroristischen Elementen befreien, die es dort noch immer gibt. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass zum Beispiel YPG ethnische Bereinigungen durchgeführt hat. Rakka etwa ist eine sunnitisch-arabische Stadt, die mit kurdischer Gewalt eingenommen wurde. Damit wird die Demografie neu zusammengesetzt.

Die Türkei ist einem ähnlichen Vorwurf selbst ausgesetzt: dass sie durch die Ansiedlung syrischer Araber die Kurden zurückdrängen möchte.

Die Türkei behebt das, was die YPG angerichtet hat. Wir wollen, dass die syrischen Kurden in ihre Städte zurückgehen, ebenso die syrischen Araber. Und wir wollen, dass die Syrer die Führung im Norden Syriens übernehmen. Wir wünschen uns territoriale Integrität und Einheit in Syrien. Wir haben keinerlei Absicht, das Gebiet zu okkupieren. Wenn wir das gewollt hätten, hätten wir das machen können.

Was sind also die Absichten?

Zunächst die Region befreien. Danach werden wir den Syrern, die das Gebiet dann selbst verwalten, dabei helfen, aus der Türkei zurückzukehren. Es wäre übrigens nicht die erste militärische Operation, wir haben schon welche im Norden des Irak und Syriens durchgeführt. Mit einer Offensive haben wir 4000 Quadratkilometer im Norden Syriens, westlich des Euphrat, bereinigt. Wissen Sie, wie viele Menschen dann aus der Türkei dorthin zurückgekehrt sind? 360.000 sind in ihre Häuser, in ihr Land zurückgegangen. Nun haben wir das nächste Problem. 600.000 Menschen sind aus der Gegend um Idlib geflohen, 300.000 von ihnen bewegen sich Richtung europäischer, türkischer Grenze. Was machen wir, wenn sie in die Türkei, nach Europa wollen? Wer hilft ihnen? Daher die Pläne für die sichere Zone: Wir werden den Menschen helfen, sich wieder in Syrien anzusiedeln. Wir werden Häuser bauen und Unterstützung leisten, dass Geschäfte geführt und Felder bestellt werden können.

Woher soll das Geld dafür kommen?

Wir zahlen bereits in der Türkei für Flüchtlingshilfe. Bisher hat uns das 40 Milliarden Dollar gekostet. Statt das Geld in der Türkei auszugeben, wollen wir die Menschen dabei unterstützen, in ihrer Heimat zu bleiben. Die Finanzhilfe der internationalen Gemeinschaft, der Europäischen Union ist begrenzt und erfolgt nur langsam. Dennoch haben wir um deren Beitrag zur Einrichtung der sicheren Zone gebeten. Im EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen vom März 2016 ist denn auch festgehalten, dass die beiden Seiten gemeinsame Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen im Norden Syriens unternehmen sollen. Das ist für unsere Sicherheit wichtig, aber auch dafür, mit irregulärer Migration fertig zu werden.

Ist das die Alternative dazu, dass die Türkei den Flüchtlingen "die Tore öffnet" für die Weiterreise in die EU, wie es Präsident Erdogan formuliert hat?

Präsident Erdogan wollte damit das Ausmaß des Problems aufzeigen. Seine Botschaft war: "Wach auf, Europa. Das Problem ist riesig, und es wird noch einige Zeit andauern." Die EU könne sich nicht aus der Verantwortung ziehen, bloß weil sie sechs Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat. Von diesem EU-Geld hat übrigens erst ein Drittel syrische Flüchtlinge erreicht.

Sie sprechen von der Flüchtlingshilfe im Rahmen des EU-Türkei-Deals. Die EU-Kommission sagt, dass der Großteil der zugesagten Mittel sehr wohl schon geflossen sei. Ein anderer sei an bestimmte Projekte gebunden, die nun einmal über einen längeren Zeitraum laufen. Abgesehen davon: Ist aus Ihrer Sicht ein neues Abkommen nötig?

Das Abkommen gilt. Doch ändern sich im Laufe der Zeit die Anforderungen. Die erste Tranche von drei Milliarden Euro floss in Notfall-Hilfe: Essen, Wasser, Unterbringung. Die zweite Tranche wird für Aus- und Weiterbildung, für Integrationsmaßnahmen verwendet. Die Kooperation zwischen der EU und der Türkei sollte fortgesetzt und ausgebaut werden. Denn es ist die Türkei, ein Nicht-EU-Mitglied, die der Union die Hauptlast in der Flüchtlingskrise abnimmt.

Griechenland wirft der Türkei aber jetzt vor, das Abkommen aufzuweichen und die Grenzen zur EU weniger strikt zu kontrollieren.

Die Vereinbarung sendet mehrere Botschaften an syrische Flüchtlinge. Etwa: Bleibt in der Türkei, ihr bekommt hier Hilfe. Und: Reist nicht illegal in die EU ein, denn ihr werdet zurückgeschickt. Die Türkei hat allein heuer an die 300.000 Menschen von der Überfahrt nach Griechenland abgehalten. Umgekehrt sind nach unseren Schätzungen seit 2016 von den Millionen Flüchtlingen an die 60.000 Menschen trotzdem in die EU gelangt. Griechenland hat von seinen Inseln aber in der Zeit nur 1906 Menschen zurückgeschickt. Außerdem verlegt es jetzt die Flüchtlinge aufs Festland, von dem diese einfacher weiterreisen könnten. Das sind die falschen Signale an die Menschen.

Zur Person~ Faruk Kaymakci ist seit August 2018 Vize-Außenminister und EU-Beauftragter der Türkei. Zuvor war der Diplomat unter anderem Botschafter in Bagdad und Brüssel. Er war Gast beim "Salzburg Europe Summit" des Instituts der Regionen Europas.