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Eine Geschichte der Entfremdung

Von Siobhán Geets

Politik

In die Brexit-Verhandlungen ist plötzlich Bewegung gekommen, auf einmal gibt es wieder Hoffnung auf einen geregelten Austritt Großbritanniens. Der Brexit, ein Produkt der konservativen Tories, ist dennoch vor allem eine Chronologie des Scheiterns.


An einem kühlen Morgen Ende Februar 2016 stellt sich Boris Johnson endlich den Journalisten vor seinem Haus in London. "Ich habe mir das sehr lange überlegt", sagt der damalige Bürgermeister von London, alle Kameras sind auf ihn gerichtet. "Ich werde mich der Leave-Kampagne anschließen... oder wie auch immer das Team heißt." In der Nacht zuvor hatte Johnson zwei Meinungsartikel geschrieben, einen für den Brexit und einen dagegen - und sich am Ende für jene Seite entschieden, die sich besser anhörte. Es war eine Sternstunde für die Brexiteers, die einen Exit aus der Europäischen Union anstreben. Zuvor hatte niemand so richtig an ihren Erfolg geglaubt. Mit Boris Johnson an Bord hatte sich das geändert.

Doch von Anfang an: Ende 2015 gab der damalige Tory-Regierungschef David Cameron den Brexiteers seiner Partei endgültig nach und verkündete ein Referendum zum EU-Austritt. Was folgte, sollte die politische Landschaft des Vereinigten Königreichs bis heute verändern. Denn trotz der am Freitag angekündigten neuen Last-Minute-Verhandlungen zwischen London und Brüssel, der "konstruktiven Gespräche" zwischen Johnson und dem irischen Premier Leo Varadkar und der in den vergangenen Tagen plötzlich wieder aufgekommenen Hoffnung auf den Abschluss eines Austrittsabkommens ist der Brexit vor allem eine Geschichte des Scheiterns, eine Folge der jahrzehntelangen Entfremdung von der Staatengemeinschaft. Drei wesentliche Faktoren sind verantwortlich für den Ausgang der Volksabstimmung im Sommer 2016: eine umfassende Sparpolitik, eine jahrzehntelange, sorgfältig gepflegte EU-Skepsis und die gezielte Desinformation des Leave-Lagers vor dem Referendum.

Camerons Abrechnung

Rund 52 Prozent der Briten stimmen am 23. Juni 2016 für den Brexit. Die Brexiteers feiern das Ergebnis als Befreiung aus den Fesseln eines dumpfen Kolosses, für Cameron bedeutet es das Ende seiner politischen Karriere. Am Tag danach tritt er Hand in Hand mit seiner Frau Samantha vor den Amtssitz der Downing Street und verkündet seinen Rücktritt. Dann taucht Cameron ab. Die folgenden drei Jahre verbringt er in seinem Gartenhäuschen, um ein Buch zu schreiben. Interviews gibt der ehemalige Premier keine, Fragen weicht er aus, Reportern läuft er buchstäblich davon. Vor kurzem erschien "For the Record", es ist eine 750 Seiten starke Abrechnung mit der Partei, dem Brexit-Lager und Boris Johnson. Es ist der verzweifelte Versuch, ein Scheitern zu erklären, dessen Folgen zu schwer sind, um sie allein zu tragen. Die Schuld am Brexit gibt Cameron vor allem No-Deal-Minister Michael Gove und dem aktuellen Premier Boris Johnson. Cameron inszeniert sich als Opfer einer Meute illoyaler Brexiteers, die einen Wahlkampf jenseits der Fakten führten.

Tatsächlich ist das größte Versprechen, das die Brexiteers in ihrer Kampagne machen, eine Lüge. "Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund", steht auf dem Bus, mit dem die Anführer der Leave-Kampagne durchs Land fahren. "Lasst uns stattdessen unser Gesundheitssystem finanzieren." Die Zahl ist frei erfunden, mit dem staatlichen Gesundheitssystem hat sie schon gar nichts zu tun. Einen wahren Kern treffen die Brexiteers trotzdem: Der National Health Service ist durch den Sparkurs Camerons geschwächt, die Wartezeiten sind lang, die Arztpraxen überfüllt. Es ist eine weitere Sparmaßnahme, die die Menschen schmerzhaft zu spüren bekommen. Die Brexiteers geben gern Brüssel die Schuld für die Misere im Land. Doch der desaströse Niedergang in britischen Sicherheits- und Sozialstandards hat mit der EU nichts zu tun. Es waren die Konservativen, die im letzten Jahrzehnt 30 Milliarden Pfund aus dem Sozialbudget strichen, 20.000 Polizisten abbauten und die Subventionen für Gemeinden und Städte landesweit um 60 Prozent kürzten.

Doch der Brexit ist auch ein Produkt jahrzehntelanger, sorgfältig gepflegter EU-Skepsis auf der Insel. Schon in den 1980er Jahren legte die damalige Premierministerin Margarete Thatcher den Grundstein für die antieuropäische Geisteshaltung, die sich bis heute hält. Die von den EG-Partnern angestrebte EU sei "ein Albtraum"; "absurd" die Idee, nationale Hoheitsrechte an Brüssel abzugeben. "We want our money back", rief sie in Richtung Brüssel - und sorgte dafür, dass Großbritannien zahlreiche Sonderregelungen erhielt. Die Briten bekamen einen Rabatt auf Beiträge in den EU-Haushalt, dem Euro und dem Schengen-Abkommen traten sie nicht bei. Schon Thatcher nutzte das Argument, dass London seine Einwanderungspolitik selbst bestimmen wolle.

Fremdenfeindliche Polemik

Vor dem Referendum greifen die Brexiteers diese Rhetorik auf und machen Migration zum Hauptthema. Rund 333.000 Menschen waren 2015 nach Großbritannien eingewandert, ein neuer Rekord. Sein Ziel, die Nettomigration auf 100.000 jährlich zu begrenzen, hatte Cameron weit verfehlt. Dass es sich bei den meisten Einwanderern gar nicht um EU-Bürger handelt, kümmert die Leave-Kampagne nicht. Finanziert von reichen Brexiteers, streut "Vote Leave" antieuropäische und fremdenfeindliche Polemik. Der Boulevard nimmt die Propaganda dankbar auf - und druckt die Lügen auf seinen Titelseiten. Das Remain-Lager von Cameron und Teilen der Opposition kommt dagegen nicht an. "Die Physik der Politik hatte sich verändert", schreibt der ehemalige Premier. Alte Weggefährten, darunter einige seiner Minister, kämpfen plötzlich gegen ihn, mit unlauteren Mitteln: "Das war offene Kriegsführung." Cameron, das geht aus seinem Buch hervor, kannte die eigene Partei nicht gut genug, um einschätzen zu können, wie groß der Wunsch nach einer Abspaltung von der EU ist. Man glaubt ihm, wenn er sagt, dass er ehrlich überrascht war. Und noch etwas hat Cameron sich nicht überlegt: Was geschieht nach dem Brexit mit der irischen Grenze?

Ausgerechnet Irland

Irland, die Frage, an der sich heute alles entscheidet, war vor dem Referendum kein Thema. Nach dem Brexit gehören die EU und das Vereinigte Königreich unterschiedlichen Märkten an. Wie kann die neue EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland dann offen gehalten werden? Ausgerechnet Irland, die ehemalige Kolonie, ausgerechnet Nordirland, die vernachlässigte Provinz, der Hinterhof des Königreichs, sind zum Knackpunkt der Verhandlungen geworden.

All das hat Cameron nicht auf dem Radar, als er Anfang 2016 um Boris Johnson wirbt. Der Premier will den Londoner Bürgermeister, schon damals der beliebtesten Politiker im Land, unbedingt in seinem Team haben. Cameron bietet Johnson eine führende Position in seinem Kabinett an und stellt ihm sogar seine Nachfolge als Premier in Aussicht. Cameron lädt Johnson zum Tennis ein, ruft ihn regelmäßig an, schreibt ihm SMS.

Doch Johnson will sich nicht festlegen. "Immer wieder sagte ich ihm: Nimm nicht den Kurs, von dem du denkst, dass er fundamental falsch ist für unser Land." Wenige Monate vor dem Referendum ist sich Johnson immer noch nicht sicher. "Es schleudert mich wie einen kaputten Einkaufswagen", gesteht er vor Journalisten. Cameron schreibt ihm wieder SMS: "Wenn du dir nicht sicher bist, tu das Richtige!"

Wenig später brütet Johnson zu Hause in London dann über den beiden Meinungsartikeln zum Referendum. Cameron behauptet, übers Telefon quasi mit dabei gewesen zu sein: "Er hat seine Meinung mindestens zweimal geändert." Am Sonntagabend fällt die Entscheidung. "Der Brexit wird zertreten werden wie eine Kröte", ist Johnson überzeugt. Er werde sich dennoch für Leave einsetzen. Als die Brexiteers schlussendlich das Referendum gewinnen, sind wohl beide überrascht.

Nach Camerons Rücktritt übernimmt Theresa May die Führung - und scheitert kolossal. Wie ihr Vorgänger lässt sich auch sie von den Brexit-Hardlinern ihrer Partei hertreiben, sie vergeudet wertvolle Zeit und bindet das Parlament viel zu spät ein. Das Austrittsabkommen, das sie mit Brüssel vereinbart, scheitert am britischen Unterhaus, May muss den Brexit zweimal verschieben. Auf Mays Niederlange bereitet der neue Premier Johnson den Boden für seine eigene Erzählung: Er werde den Brexit durchziehen, zur Not auch ohne Austrittsabkommen.

Neuer Hoffnungsschimmer?

Doch möglicherweise kommt es auch nicht so weit. So sieht es am Freitag auf einmal wieder danach aus, als könnte der alte Vorschlag Brüssels, Nordirland im Binnenmarkt und in einer Zollunion mit der EU zu lassen, mit einigen Veränderungen doch noch Realität werden. Ursprünglich hatte die nordirische DUP, auf die Mays Regierung angewiesen war, das abgelehnt, doch nun scheint neue Dynamik in die Angelegenheit zu kommen - zumal die nordirische Volksvertretung Stormont zwar keine Vetomöglichkeit, aber offenbar doch ein Mitspracherecht hinsichtlich der Dauer dieser Übergangslösung bekommen könnte. Doch egal, ob es nun einen No-Deal-Brexit gibt oder zu einem Kompromiss in letzter Minute kommt: Die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen mit der EU fangen erst danach an. Die Geschichte der Entfremdung ist noch lange nicht abgeschlossen.