Zum Hauptinhalt springen

Ukraine: Arrangement mit dem Schrecken

Von WZ-Korrespondent Oliver Bilger

Politik

Der mehr als fünfjährige Krieg hat dem Leben im ostukrainischen Frontgebiet seinen Stempel aufgedrückt. Die Bewohner der Dörfer in der Pufferzone haben gelernt, mit dem Krieg zu leben. Die Hoffnung auf Frieden geben sie nicht auf.


Die Jahre im Krieg haben tiefe Spuren hinterlassen. Manchmal sind sie augenfällig wie die Abdrücke der Panzerketten, die sich auf der alten Schnellstraße nach Donezk für immer in den Asphalt gepresst haben. Andere bleiben zunächst verborgen, wie die Enttäuschung, den Ljudmila Stepanowna Pawljuk fühlt. Die Ortsvorsteherin von Krasnohoriwka sitzt in einem kleinen, spärlich eingerichteten Büro an der Gagarin-Straße. An der Wand hängen zwei blau-gelbe Flaggen der Ukraine. Die 65-Jährige mit schwarzem, toupiertem Haar und Falten um die müden Augen begegnet Besuchern freundlich, sie sagt dabei aber auch: "Wir kämpfen ums Überleben. Keiner weiß, wie es weitergeht." Wie viele hier im Osten der Ukraine fühlt sie sich allein gelassen mit ihren Alltagssorgen. Ihren Gemütszustand beschreibt Pawljuk wie folgt: "Wir lächeln nicht mehr."

Es herrscht noch immer Krieg in der Ostukraine, inzwischen ist er ins sechste Jahr gegangen. Längst haben kleinere Scharmützel die großen Gefechte abgelöst. Die ukrainische Armee kämpft gegen von Russland unterstützte Separatisten, die April 2014 in der Region Donezk sowie im benachbarten Luhansk sogenannte Volksrepubliken ausriefen. Heute trennt die Landesteile eine "Kontaktlinie" von 450 Kilometern, stellenweise umkämpfte Front, immer eine Grenze.

Truppenabzug lässt hoffen

Auf der Seite unter ukrainischer Kontrolle leben die Menschen in einem Niemandsland, abgehängt und abgeschnitten vom Rest der Ukraine. Die Bewohner haben sich in der neuen Realität eingerichtet - und sehnen sich dennoch nach nichts mehr als einem Ende des Konfliktes. Wolodymyr Selenskyj, der neue Präsident, hat seinem Land Frieden versprochen und dringt auf neue Gespräche im sogenannten Normandie-Format, bei dem sich die Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich um eine Lösung bemühen. Erst vor wenigen Tagen haben Kanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin am Telefon die Möglichkeit eines Vierer-Treffens ausgelotet.

Schon bald könnte es einen neuen Anlauf zur Beilegung des Konfliktes geben. In dieser Woche rückten Regierungstruppen und Rebellen an der Frontlinie in der Region Luhansk ab. Bereits im Juni hatte es einen solchen Truppenabzug gegeben. Anfang September tauschten die Ukraine und Russland Gefangene aus. So wächst die Hoffnung auf neue Bewegung im festgefahrenen Konflikt.

Krasnohoriwka ist ein Dorf in der "grauen Zone", knapp fünf Kilometer entfernt von der Kontaktlinie. In der Ferne ragen Schornsteine und Schutt in den Himmel. Knapp 20 Kilometer Luftlinie sind es bis in die Vororte der Industriemetropole Donezk. Krasnohoriwka ist ein Örtchen mit geduckten Häusern hinter hohen Zäunen und zweigeschoßigen Backsteinbauten. In Gärten liegen geerntete Kürbisse. Es gibt schlechte Straßen und ein Weltkriegsdenkmal in der Dorfmitte, wie es in den meisten Orten üblich ist. Aber es gibt auch verlassene Häuser, ein Kulturzentrum, das zum Teil in Trümmern liegt, Einschusslöcher an Fassaden und Zäune, die Projektile und Granatsplitter durchbohrt haben. Es sind Spuren eines Krieges, der im Westen leicht in Vergessenheit gerät.

129 Häuser sind in Krasnohoriwka beschädigt worden, das weiß Ortsvorsteherin Pawljuk genau, ihr eigenes ist nämlich ebenfalls betroffen. An Außenwänden und Balkonen einiger Gebäude im Ort ist der Mörtel leicht zu erkennen, mit dem man stellenweise Schäden ausgebessert hat. Fast 13.000 Menschen sind dem Konflikt zum Opfer gefallen, mehr als 30.000 wurden verletzt. Anderthalb Millionen Menschen haben die Region verlassen. Der im Februar 2015 ausgehandelte Waffenstillstand ist seither so brüchig wie die Kohle, für deren Abbau die Gegend berühmt war. In ihren täglichen Berichten listet die OSZE-Beobachtermission noch immer hunderte Verstöße gegen die Waffenruhe auf.

In Krasnohoriwka immerhin hat sich der Krieg inzwischen verzogen. Seit zwei Jahren wurde hier nicht mehr geschossen. Trotzdem fürchten einige Bewohner, dass die Gewalt zurückkehren könnte. Es grenzt an ein Wunder, dass während der Kämpfe niemand sein Leben verlor. Bis in den Sommer 2017 habe es "jeden Tag Angriffe gegeben", sagt Walentina Skliarowa. Seit knapp 40 Jahren ist sie Lehrerin für Deutsch und Englisch an der Dorfschule und erzählt, wie sie "aus dem Fenster meiner Wohnung die Angriffe sehen" konnte. "Jeden Tag", sagt sie. An die Kämpfe sei die kleine Frau mit schwarzem Haar so gewöhnt, dass sie es als ungewöhnlich empfand, "wenn nicht geschossen wurde".

Ljudmila Pawjuk, die Bürgermeisterin des Dorfes Krasnohoriwka im Frontgebiet.
© Oliver Bilger

Damals, im Kriegsjahr 2015, wurde auch ihre Schule von Geschossen getroffen, ebenso der Bolzplatz davor. Die Schäden sind noch immer an den Backsteinwänden zu sehen. Die zerstörten Fenster wurden erst nach zwei Jahren ersetzt. Der Unterricht ging trotzdem weiter, im Winter zogen die Schüler in andere Räume. 60 Kinder lernen in dem grauen, kastenförmigen Bau. Im Notfall wussten sie, wie jeder, wie sie sich zu verhalten haben. Das Treppenhaus bot in der Schule den einzigen Schutz. "Die Welt hat keine Vorstellung, was hier geschieht - das wissen nur wir", erklärt Skliarowa. Erst herrschten Angst und Gewalt vor, nun Armut und fehlende Perspektiven. Die Lehrerin steht im Klassenzimmer, ein auffällig großer Raum mit wenigen Tischen, an der Wand ein buntes Alphabet-Poster und eine Zeichnung von Goethe. Skliarowa hofft, dass "dieser tierische Krieg endet". Es drehe sich doch alles nur um die Interessen ein paar weniger - und ums Geschäft im reichen Kohlerevier Donbass. "Hoffentlich geht jetzt bald alles zu Ende", sagt sie.

Ein Drittel der Leute zog weg

Bei Beschuss in der Nacht floh sie in den Keller. Harrte aus, in einer Wohnung ohne Gas mit geborstenen Fenstern. Andere suchten Zuflucht im Badezimmer, dem Raum ohne Fenster, die Badewanne kann zusätzlichen Schutz vor Schrapnellen bieten, wenn man sich hineinlegt und den Kopf einzieht. "Man kann in dieser Situation nur mit Gott leben", sagt Skliarowa, "wenn plötzlich die Bomben fallen." Trotzdem habe sie nie überlegt, ihre Heimat zu verlassen. "Wir Lehrer sind alle geblieben", erklärt sie und klingt ein bisschen stolz.

Nicht jeder hat es im Dorf ausgehalten. 550 Menschen leben noch in Krasnohoriwka, die meisten sind Rentner. Ein Drittel der Bewohner hat den Ort in den vergangenen Jahren verlassen, auf der Suche nach einem sichereren, einem besseren Leben. Wer bleibt, versucht sich mit den Umständen zu arrangieren, so gut es eben geht. In Dörfern wie Krasnohoriwka gibt es kaum noch Ärzte, die meisten sind geflohen. Medizinische Einrichtungen und Gerätschaften wurden zu großen Teilen zerstört. Kinder bleiben ungeimpft, Krebspatienten fehlt die Ausrüstung für eine Behandlung. Viele Ältere leiden an chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes. Es mangelt an Medikamenten. Mobile Kliniken erreichen die Dörfer nur zeitweise mit der nötigsten Hilfe. Viele sind auf Lebensmittellieferungen von Hilfsorganisationen angewiesen, die Versorgungslücken schließen.

Wer kann, versorgt sich selbst: mit Gemüse aus dem Garten und Milch von eigenen Kühen, zu Hause backen sie Brot. Früher gab es Jobs in der Landwirtschaft und im Bergbau. Heute sind viele Gruben geschlossen und Felder vermint. Die nahe Regionalhauptstadt Donezk ist nur beschwerlich zu erreichen. Der Krieg hat die Menschen im grauen Niemandsland von der Infrastruktur abgeschnitten.

"Sinnlos, nur zu warten"

Langsam entweicht das Leben aus der Region. In Krasnohoriwka gab es bis in den Oktober vergangenen Jahres kein dauerhaft fließendes Wasser, nachdem bei Beschuss Pumpen beschädigt und ein Wasserturm zerstört wurden. Die Versorgung funktionierte lange über einen Brunnen. Trinkbar sei das Wasser von dort kaum gewesen, erinnert sich Pawljuk, zu schmutzig. "Getrunken haben die Leute es dennoch", sagt sie. Was blieb ihnen anderes übrig? "Sie haben das Wasser eben gefiltert und abgekocht." Das ist der Alltag in den Dörfern hier.

Dmytro Drischd floh 2016 aus Donezk. Er will die Situation in der Ostukraine verbessern helfen.
© Oliver Bilger

Bis zu einer Lösung des Konflikts können noch viele Jahre vergehen. Das wissen auch die Menschen in der Ostukraine. Sie arrangieren sich mit den Umständen, so gut es eben geht. In den vergangenen Jahren haben sie Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen, aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und aus anderen Ländern sind aktiv, um die Lebensbedingungen der Menschen in der grauen Zone ein wenig zu verbessern. Ohne die fremde Hilfe, sagen die Einwohner, wäre das Leben noch schwieriger. Inzwischen aber wollen sie nicht länger einfach nur auf eine Zukunft warten, die sich nicht für sie interessiert.

Einige wollen dem Stillstand entgegenwirken, der die Region mit jedem Tag des nicht gelösten Konflikts lähmt. In Krasnohoriwka hatte die Dresdner Hilfsorganisation Arche Nova, spezialisiert auf Wasser- und Hygieneversorgung in Krisengebieten, geholfen, die zerstörten Wasserpumpen zu reparieren und damit eine verlässliche Wasserversorgung geschaffen. Die Organisation half auch, die Schultoiletten zu erneuern. Die Hilfe der Dresdner läuft zum Jahresende aus, doch die ukrainischen Mitarbeiter wollen die Arbeit fortführen.

"Es gibt weiterhin humanitäre Bedürfnisse", begründet Dmytro Drischd diesen Entschluss. Er wird die sieben Mitarbeiter künftig leiten. Der 42-Jährige mit langem braunem Bart und weichen Augen ist 2016 aus seiner Heimatstadt Donezk geflohen. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "choose a side". Als Bürger der Ukraine fühle er eine Verantwortung: "Ich will dazu beitragen, um die Situation in der Ostukraine zu verbessern."

In den ersten zwei Jahren des Krieges habe er, wie viele andere Bewohner der Region, gewartet, sagt er. In dieser Zeit sei die Ostukraine "wie eingefroren" gewesen, politisch und wirtschaftlich. Dann habe er gemerkt, dass dies "nicht auf ewig so bleiben" könne. "Es ist sinnlos zu warten, dass ein anderer die Lage verbessert." Statt nur auf politische Entscheidungen oder die Hilfe aus dem Ausland zu hoffen, will er beim Wiederaufbau seiner Heimat mit anpacken. Den bisherigen Fokus der Hilfsorganisation will Drischd beibehalten, doch er sagt auch: "Aber wir machen nicht die Arbeit, die unsere Regierung machen muss." Die Staatsführung solle nicht das Gefühl bekommen, sich nicht kümmern zu müssen, weil jemand anderes die Arbeit mache. Das sei ein verbreitetes Gefühl auf allen Ebenen der Gesellschaft, erklärt er - ein Erbe der Sowjetzeit.

Die Menschen vor Ort müssten die Situation selbst verbessern, sagt Drischd. "Es geht um unser Leben." Das könnte sogar die Suche nach Frieden beeinflussen, glaubt er. "Unser Erfolg wird ein Zeichen sein für die ,Volksrepubliken‘", glaubt der Ukrainer. Dort könnten die Einwohner sehen, dass sie vom Erfolg der Nachbarn profitieren, "wenn sie sich wiedervereinigen."

Gleichzeitig ist er zuversichtlich, dass die neue Regierung den Friedensprozess wiederbeleben könne, gerade jetzt, da es neue Bewegung wie den jüngsten Truppenabzug gibt. "Die Menschen verbinden mit der neuen Regierung vor allem: Hoffnung", sagt er, "aber es ist unklar, wie lange diese Hoffnung bleibt."

Ein Kindergarten in Torezk, knapp 30 Kilometer nördlich von Krasnohoriwka. Hinter der schweren Eingangstür warnt ein Plakat vor den Gefahren durch Minen. Sprengfallen und Blindgänger sind eine große Gefahr für Zivilisten im Donbass. Fotos zeigen, wie Minen und Munition aussehen, um sie leichter zu erkennen. Betreuerinnen sprechen immer wieder mit den Kindern, 145 sind es in der Tagesstätte, darüber, damit sie irgendwo am Boden gefundenen Gegenstände nicht für Spielzeug halten und anfassen.

Viktoria Triputen, die Leiterin des Kindergartens, rotes Kleid, kurzes braunes Haar, ist natürlich froh, dass in Torezk ebenfalls die Waffen schweigen. Sie hofft, dass sich die Lage weiter stabilisiert, "dass Leute zurückkehren, die im Krieg geflohen sind". Und dass sie neue Jobs finden, zum Beispielen in den Bergwerken im Kohlerevier. Einige, das ist ihre Hoffnung, könnten wiedereröffnen, wenn sich die Lage normalisiert. Und die Gruben, die weiter in Betrieb sind, könnten die Förderung erhöhen. "Die Kinder wissen, wie Bomben klingen", schildert die Direktorin in ihrem kühlen Büro. "Sie haben sogar Angst, wenn sie ein Feuerwerk hören." Welche psychischen Folgen das bedeutet, könnten nur Psychologen in der Zukunft sagen. Triputen seufzt. Sie fürchtet, dass bei vielen ein Trauma zurückbleiben wird.

In Krasnohoriwka hoffen viele Bewohner, dass "die Straßen wieder öffnen und uns mit Donezk verbinden", wie Ortsvorsteherin Pawljuk schildert. Die alte Verbindungsstraße ist seit Jahren kaum mehr befahren, Bushaltestellen sind verwaist - steinerne Zeugen einer anderen Zeit. An Checkpoints mit Betonpollern und Panzersperren kontrollieren auf der anderen Seite ukrainische Soldaten mit Automatikwaffen jeden Reisenden.

Letzte Hoffnung Selenskyj

Den letzten Posten vor dem Dorf hat man neben einer zerstörten Eisenbahnbrücke errichtet. Über den Trümmern weht die Landesflagge im Wind. "Die meisten im Ort haben vor dem Krieg in Bergwerken nahe Donezk gearbeitet", sagt Pawljuk, "doch das ist heute nicht mehr möglich." Die Ortsvorsteherin ist überzeugt, dass sich in Zukunft etwas ändern wird. Sie hofft auf eine "starke Entscheidung" des neuen Präsidenten. "Wir hoffen, dass der Krieg endet", sagt Pawljuk und formuliert, was viele in der Gegend von Selenskyj erwarten: "Er scheint unsere letzte Hoffnung zu sein."
Die Reise in die Ukraine fand auf Einladung der Organisation Arche Nova statt.