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Kampf um den "Roten Gürtel"

Von Linda Osusky

Politik

Barcelona ist eine Hochburg der katalanischen Separatisten. In den von zugewanderten Arbeitern geprägten Vorstädten wird die Unabhängigkeitsbewegung kritischer gesehen.


Die Menschenschlange vor dem Einkaufszentrum in L’Hospitalet de Llobregat, mit 260.000 Einwohnern Kataloniens zweitgrößte Stadt, scheint kein Ende zu nehmen. Viele der Wartenden haben Spanienflaggen dabei. In wenigen Minuten wird die ultrarechte Partei Vox offiziell ihre Wahlkampagne für die spanischen Parlamentswahlen am kommenden Sonntag eröffnen. In Katalonien. In einer Arbeiterhochburg. Etwa 3000 Sympathisanten sind gekommen, um Parteichef Santiago Abascal begeistert zu empfangen. Vox fischt im Territorium der Sozialisten nach Wählerstimmen. Erst im Mai dieses Jahres wurde in L’Hospitalet die Sozialistin Nuria Marin mit absoluter Mehrheit zur Bürgermeisterin gewählt. Dass Abascal seine Wahlkampagne hier eröffnet, ist kein Zufall.

Der "Rote Gürtel" umfasst eine Reihe von Arbeitervorstädten in Form eines Kipferls, in dessen Krümmung die katalanische Hauptstadt liegt. Hier, vor den Toren Barcelonas, ist die Politik fest in der Hand der Sozialisten. Die Bewohner sind zu etwa 85 Prozent Spanier, die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Hunderttausenden aus den ärmeren Regionen, vor allem Andalusien und Galizien, zugewandert sind. Sie kamen, um Arbeit im industriell entwickelten Katalonien zu finden. Von rund 5,6 Millionen wahlberechtigten Katalanen leben zwei Millionen in diesen sehr dicht besiedelten Vorstädten. Aus der zweitgrößten Region Spaniens kommen 48 der 350 Abgeordneten des Parlaments in Madrid.

Angst vor Vertreibung nach Unabhängigkeit

Mit einer Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien können hier nur wenige etwas anfangen. "Früher waren wir eins. Heute ist man entweder für oder gegen die Unabhängigkeit. Ich respektiere, dass sie die Unabhängigkeit wollen. Aber sie respektieren uns nicht. Dabei sind wir doch alle Katalanen", sagt die 58-jährige Asunción Muñoz, Mitglied bei den katalanischen Sozialisten in Martorell. Um ihren Vorwurf zu untermauern, erzählt sie, wie sie beim Einkaufen von zwei anderen Kunden als Faschistin und Ausländerin beschimpft wurde, weil sie ein Armband mit spanischer Flagge trug.

Der Politologe Juan José Dominguez ist überzeugt, dass es sich bei den Vox-Sympathisanten in L’Hospitalet nicht um Faschisten handelt. "Das sind Leute, die sich von der Unabhängigkeitsbewegung bedroht fühlen. Sie haben Angst, dass man sie aus Katalonien vertreibt, sollte es zur Unabhängigkeit kommen", sagt er.

Vox könnte Ergebnis in Katalonien verdreifachen

Im Gegensatz zu den Vox-Wählern im Rest Spaniens, die aus allen Gesellschaftsschichten stammen, gehörten katalanische Vox-Wähler vor allem zur Arbeiterklasse. Der Wähleranteil für die extreme Rechte ist in Katalonien vergleichsweise gering: Vox kam hier am 28. April auf gerade einmal 3,6 Prozent, also auf weit weniger als das spanienweite Ergebnis von zehn Prozent. Auf dem ersten Platz lagen die Republikanischen Linken. Die Sozialisten sind der Separatistenpartei mit nur 1,3 Prozentpunkten Unterschied dicht auf den Fersen. Dominguez verweist jedoch auf Prognosen, wonach Vox sein Ergebnis in Katalonien verdreifachen könnte.

Doch der Ausgang der Wahl am Sonntag ist weit ungewisser, als das im April der Fall gewesen war, wie Steven Forti, Dozent für Zeitgeschichte an der Universitat Autonoma de Barcelona, betont. Die anonyme Gruppe Tsunami Democratic hat die Katalanen am Tag vor der Wahl zu Protestkundgebungen aufgerufen. "Dabei sind politische Kampagnen und Proteste am Vortag gesetzlich verboten", sagt Forti.

Die Polizei rüstet sich in Katalonien außerdem für Sabotageakte in Wahllokalen. "Das kann emotionale Auswirkungen auf die Wahlabsicht noch am Wahltag haben - sowohl innerhalb als auch außerhalb Kataloniens", sagt Historiker Forti.

15 Kilometer weiter nordwestlich, in Santa Coloma de Gramanet, hat Ester ihre Vinothek. "Hätte man mich vor einem halben Jahr gefragt, hätte ich eine klare Antwort gehabt. Doch jetzt trage ich widersprüchliche Gefühle in mir", sagt die 29-Jährige, die bisher immer die Sozialisten gewählt hat. Die Politiker in Madrid seien mit der Katalonienfrage schlecht umgegangen. "Es ist verständlich, dass die Leute zu Unabhängigkeitsbefürwortern werden. Die Rechten sind schuld daran."

Separatisten könnten von harten Urteilen profitieren

Umfragen diverser Institute und Medien zufolge wird sich das spanienweite Wahlergebnis für die Sozialisten und die linke Unidas Podemos im Vergleich zum 28. April kaum verändern. Die rechtsliberalen Ciudadanos werden wahrscheinlich deutlich verlieren. Davon könnten der konservative Partido Popular und Vox profitieren. Der Block der Unabhängigkeitsparteien könnte vor dem Hintergrund der harten Urteile gegen ihre Politiker in der demografisch zweitstärksten Region stark dazugewinnen. "Auch eine absolute Mehrheit für die Unabhängigkeitsparteien in Katalonien ist möglich", sagt Dominguez.

Seine Wahlkampagne wird Sozialisten-Chef Pedro Sanchez dieses Mal jedenfalls nicht wie gewohnt in Madrid, sondern in Barcelona abschließen. Ein symbolischer Akt, wie Salvador Illa, Generalsekretär der katalanischen Sozialisten, bestätigt. Doch es geht um mehr: "Nur wenn wir in Katalonien ein gutes Ergebnis erreichen, bekommen wir ein gutes Ergebnis in ganz Spanien."