Zum Hauptinhalt springen

"Havel war ein unangenehmes Spiegelbild für seine Landsleute"

Von Klaus Huhold

Politik

Dem einstigen Havel-Berater Jiri Pehe fällt es schwer, den Aufstand von 1989 als Revolution zu bezeichnen. Und er meint, dass der jetzige tschechische Premier Babis Mentalitäten aus dem Kommunismus bedient.


"Wiener Zeitung": Mit Vaclav Havel wurde nach der Samtenen Revolution ein Schriftsteller und hochintellektueller Mensch Präsident. Könnte das heute auch passieren oder war das nur damals unter diesen bestimmten Umständen möglich?

Jiri Pehe: Ich denke, dass das heute schwer denkbar wäre - und die heutige Zeit wohl auch kaum jemanden wie Vaclav Havel hervorbringen würde. Sein Werdegang war ganz bestimmten historischen Umständen geschuldet. Er war der Anführer der Dissidentenbewegung, und als das Regime zu kollabieren begann, war es logisch, dass die Wahl auf ihn fiel. Wobei er selbst nie ein Politiker sein wollte.

Hat er sich im Laufe der Zeit mit seiner Rolle als Politiker angefreundet?

Zunächst sah er sein politisches Amt als Dienst an der Nation an - aber mit der Zeit mochte er es, es hatte auch den Reiz von etwas Neuem. Gleichzeitig hat er auch immer eine gewisse Distanz zum typischen Politbetrieb gewahrt. So wie er während des Kommunismus ein Dramatiker und Dissident war, war er dann in einer gewissen Form auch ein dissidenter Politiker. Er formulierte viele Ideen, die gewöhnliche Politiker nicht aussprechen würden - weil diese Ideen zu langweilig für ihre Wähler sind oder ihnen nur Probleme bereiten. Havel sprach von globaler Verantwortung, davon, dass es für die Demokratie entscheidend ist, dass jeder Einzelne achtsam mit seiner Freiheit umgeht. Viele Reden von ihm hatten einen sehr philosophischen Charakter.

Definierte Havel sich selbst als moralische Autorität?

Er musste sich nicht als moralische Autorität definieren, weil er eine war. Seine Erfahrungen als Dissident nahm er in die Politik mit. Er war davon überzeugt, dass Politik moralischen Grundsätzen folgen müsse, und lehnte sie als reines Machtwerkzeug ab.

Hat er damit die tschechische Gesellschaft beeinflusst?

Meiner Meinung nach war er nicht sehr erfolgreich dabei, die tschechische Gesellschaft moralisch zu beeinflussen. Vielmehr war er für sie ein unangenehmes Spiegelbild. Erstens wegen der Ideen, die er äußerte. Und zweitens, weil er sehr mutig während des kommunistischen Regimes war - womit er für viele Bürger eine Erinnerung an ihren Mangel an Courage darstellte. Und in der Transformationsperiode in den 1990er Jahren, in der es zu vielen wirtschaftlichen Verbrechen kam, sahen wir nicht, dass seine moralischen Grundsätze viel Eingang in die tschechische Gesellschaft gefunden hätten.

Wie sehr hat er auch eine Illusion über Tschechien geschaffen?

Ich habe manchmal mit ihm gescherzt und gemeint, dass er sozusagen ein irreführender Werbeträger sei. Er hatte so ein hohes Ansehen im Westen und viele Menschen dort haben dazu tendiert anzunehmen, dass viele Tschechen so wie Havel sind, und nicht gesehen, dass er eine Ausnahme ist. Mit seinem Abtritt von der politischen Bühne ging deshalb auch eine Ernüchterung einher.

Wie betrachten Sie im Rückblick die Samtene Revolution - und Havels Rolle darin?

Ich habe gewisse Probleme damit, die Ereignisse von damals als Revolution zu bezeichnen. Ich denke, es war vielmehr die Übergabe der Macht von einer erschöpften, ideenlosen kommunistischen Elite zu einer neuen Elite - freilich geschah das alles mit der Unterstützung der Straße. Man kann die Ereignisse von damals meiner Ansicht auch deshalb nicht Revolution nennen, weil sie keine neuen Ideen brachten. Man entschied sich dafür, die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft, die man vom Westen kannte, zu übernehmen. Und ich denke, Havel war darüber glücklich. Er hatte ja bereits rund um 1968 diese Auseinandersetzung mit Milan Kundera. Dieser hatte in seinen Essays geschrieben, dass der Prager Frühling ein Ereignis von globaler Bedeutung sei, weil die Tschechoslowakei, diese kleine Nation in der Mitte Europas, der Welt eine Alternative, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus aufgezeigt habe. Havel widersprach Kundera und meinte, das Beste, was wir machen können, sei, ein Modell zu übernehmen, das woanders bereits funktioniert. Das sind Marktwirtschaft und liberale Demokratie. Und Havel ist dieser Überzeugung auch 1989 treu geblieben - wenngleich er viele kritische Standpunkte einnahm.

Aber ist mit der Samtenen Revolution der Kommunismus verschwunden oder sind seine Nachwehen noch heute zu spüren?

In all den kommunistischen Ländern gab es, freilich mit unterschiedlichen Schattierungen, schweigende Mehrheiten, die keine große Sehnsucht nach einem Regimewechsel zum Ausdruck brachten, solange die Machthaber Sicherheit und einen gewissen Lebensstandard gewährleisten konnten. Ich denke, dass die meisten dieser Leute dann den Regimewechsel unterstützten, weil er das Versprechen eines besseren Lebensstandards, eines Gleichziehens mit dem Westen beinhaltete. Gleichzeitig herrschte unter diesen Leuten aber auch keine große Euphorie für die liberale Demokratie vor, und es gab viel Verwirrung, was Freiheit überhaupt bedeutet. Sie haben aber den Wechsel mitgemacht, und wenn wir heute auf die Umfragen blicken, dann bevorzugen in Tschechien zwei Drittel die heutige Regierungsform. Wenn es aber darum geht, welche politischen Parteien sie unterstützen, dann sind es oft diejenigen, die mentale Stereotypen aus dem Kommunismus bedienen: Schutz, Sicherheit, eine starke Hand.

Und wo haben diese Leute in Tschechien ihre politische Heimat?

Die Mehrheit der Sitze im Unterhaus hält mit ANO die populistische, oligarchische Bewegung von Premier Andrej Babis. Er ist sehr populär, weil er noch einmal den ungeschriebenen Deal aus der Normalisierung, der Spätzeit des Kommunismus anbietet: Wir geben euch ökonomische Sicherheit und Stabilität, ihr lässt uns dafür regieren und mischt euch nicht ein. Darüber hinaus haben wir die früheren Kommunisten und die Partei von Tomio Okamura (eine als rechtsextrem eingestufte Bewegung, Anm.): Diese drei Parteien stellen die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten.

Der Milliardär und Manager Babis bietet also, freilich in einem ganz anderen ökonomischen und institutionellen Umfeld, eine Rückkehr zu alten Werten an?

Ja, und das funktioniert vor allem bei älteren Wählern. Von jüngeren Wählern erfährt er nicht so viel Zustimmung. Und vor allem in Krisenzeiten kehren diese Werte an die Oberfläche zurück - das zeigte sich besonders während der ökonomischen Krise 2008 und der Migrationskrise 2015. Es ist ein Generationenphänomen: All diese Gesellschaften sind gespalten zwischen meist älteren Leuten, die noch gewisse Werte aus der Zeit des Kommunismus mit sich tragen, und jüngeren Bürgern, die in demokratischen Verhältnissen aufgewachsen sind und ganz anders denken.

Wie lässt sich die rigorose Ablehnung der Tschechen, Flüchtlinge aufzunehmen, mit diesen alten mentalen Stereotypen erklären?

Die Migrationskrise löste Angst vor einer Destabilisierung und vor zu viel Diversität aus. Die kommunistischen Gesellschaften waren von der Außenwelt isoliert, und ein Mangel an Toleranz gegenüber allem, was anders ist, war dem kommunistischen System tief eingeschrieben - genauso wie die Idee, dass man hinter der eigenen Grenze sicher sein kann. Während der Migrationskrise gab es dann eine Debatte, ob es ein Fehler war, Schengen beizutreten, weil sich Tschechien nun nicht mehr verteidigen und vor all diesen äußeren Einflüssen und Migranten schützen könne. Dieses Denken gehört noch immer zur mentalen Ausstattung vor allem der älteren Generation. Die Politiker wissen das, und wenn sie das geschickt ausnützen, dann zahlt sich das für sie aus.

Aber die Angst vor Veränderungen gibt es ja nicht nur in postkommunistischen Ländern.

Freilich kann man überall in der Welt beobachten, dass die Globalisierung große Unsicherheiten auslöst. Auch im Westen hatten sich die Menschen ein gewisses Verständnis von der Welt angeeignet, wie sie funktioniert, und sie war schön geteilt zwischen dem guten Westen und dem bösen Osten. Nun ist sie immer weniger verständlich, und wir sind mit all diesen Ängsten, etwa vor neuen Technologien, konfrontiert. Auch im Westen ist diese Generation irritiert - und wenn man ihr dann ein Brexit-Referendum vorlegt, entscheidet sie sich für den Brexit. Aber in den postkommunistischen Ländern werden gewisse Haltungen durch die Werte aus dem Kommunismus noch verstärkt - Ost- und Westdeutschland sind ein gutes Beispiel. In Reaktion auf mehr oder weniger dieselben Probleme wählen die Ostdeutschen viel stärker extremistische Parteien als die Westdeutschen. Dies kann nicht ausschließlich durch Frustrationen der Ostdeutschen erklärt werden, vielmehr haben die früheren DDR-Bürger teilweise auch andere politische Präferenzen mitgebracht.

Aber ist diese Trennlinie zwischen älterer und jüngerer Generation, wie sie in Tschechien sichtbar wird, nicht auch eine zwischen Gewinnern und Verlierern der Wende? Die ältere Generation musste sich plötzlich in einer harschen Form der Marktwirtschaft schwierigen Anpassungsprozessen stellen, während jüngere Leute schon im neuen System aufwuchsen und sich dort viel besser zurechtfanden.

Ja, man kann es auch so betrachten: Die heute ältere Generation hat damals einem neuen politischen Regime eine Chance gegeben. Die schweigende Mehrheit war damals wohl nicht sehr enthusiastisch, aber sie hat offensichtlich die Veränderungen akzeptiert. Aber es gab auf so vielen Ebenen so starke Veränderungen, dass es für die Menschen eine hohe Last und schwierig war, sich in diesem neuen System einzuordnen, und viele sind auch auf der Strecke geblieben. Viele Enttäuschungen und auch der Wunsch nach Sicherheit und Stabilität, den Babis bedient, lassen sich auch aus dieser turbulenten Phase der Transformation erklären.

Nun gibt es ja Massendemonstrationen gegen Premier Babis. Wie sehr sind diese ein Widerhall der Samtenen Revolution?

Alle Demonstrationen, die so ein Ausmaß annehmen - es haben sich schließlich rund 300.000 Menschen auf dem Letna-Feld in Prag (im Juni, Anm.) versammelt -, erinnern an die Samtene Revolution. Aber diesmal geht es um etwas anderes: 1989 forderten die Demonstranten einen Regimewechsel. Das ist heute nicht der Fall, die Demonstranten gehen für den Rechtsstaat auf die Straße und fordern, dass sich auch Babis an dessen Regeln hält.

Ganz generell: Wie bewerten Sie 30 Jahre nach dem Umsturz 1989 die tschechische Demokratie?

Wir befinden uns noch immer in einem Transformationsprozess. Es ist ein bisschen so wie mit manchen Häusern, die man in Prag sieht: Die Touristen bestaunen die wunderschöne Fassade, doch diejenigen, die das Gebäude betreten, sehen, dass noch einiges repariert werden muss. Und ich denke, dass sich manche Theorien zu Transformationsprozessen als sehr treffend herausgestellt haben. So sagte Ralf Dahrendorf (deutsch-britischer Soziologe, Anm.), dass es zwei Generationen braucht, um eine vollständige Demokratie herzustellen, denn diese benötigt eine demokratische Kultur, die in der Zivilgesellschaft wurzelt. Das braucht mehr Zeit als der Aufbau der Institutionen, die wir bereits geschaffen haben. Meiner Meinung nach befinden wir uns in Tschechien etwa in der Mitte des Weges. Ich bin aber zuversichtlich. Die junge Generation ist sehr offen, sehr europäisch, und ein Umstand ist von besonderer Bedeutung: Wir befinden uns heute in einer viel besseren Situation als vor dem Zweiten Weltkrieg, als die Tschechoslowakei in Mitteleuropa die letzte Insel der Demokratie war, die von lauter totalitären und autoritären Regimes umzingelt war. Heute sind wir von demokratischen Ländern umgeben. Dieses Umfeld belohnt ein bestimmtes demokratisches Verhalten und schreitet bei undemokratischen Verhalten auch ein, wie wir es bei den EU-Mitgliedern Ungarn oder Polen gesehen haben. Für die langfristige Entwicklung der Demokratie ist das sehr gut. Wenn es diesen Rahmen für postkommunistische Länder nicht gäbe, wären wir in manchen von ihnen bereits zu autoritären Regimes zurückgekehrt. Je länger diese Länder demokratisch bleiben, desto stärker werden bestimmte demokratische Werte und ein bestimmtes demokratisches Verhalten internalisiert.