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Im Schatten des Nicht-Kandidaten

Von Martyna Czarnowska

Politik

London will niemanden für die neue Kommission nominieren. Das Brexit-Chaos überlagert so die Prüfung der Bewerber - und führt zu einem EU-Verfahren gegen Großbritannien.


Der Nicht-Kandidat drängte die Kandidaten beinahe in den Hintergrund. Denn nun ist es fix: Großbritannien nominiert keinen Bewerber für den Posten eines EU-Kommissars. Die Bestätigung dessen fiel mit den Anhörungen der Anwärter aus Ungarn, Rumänien und Frankreich im EU-Parlament in Brüssel zusammen. Den Fragen der Mandatare in den zuständigen Fachausschüssen stellten sich am Donnerstag Oliver Varhelyi, Adina-Ioana Valean und Thierry Breton. Und obwohl es gegen Varhelyi, der sich in der neuen Kommission um die Themen Erweiterung und Nachbarschaftspolitik kümmern soll, Einwände gibt, sorgte die britische Nicht-Nominierung für mehr Aufregung. Der Ungar muss zwar noch weitere schriftliche Fragen beantworten, doch muss dies den Zeitplan nicht unbedingt ins Wanken bringen. Das Brexit-Chaos erhöht aber das Risiko einer weiteren Verzögerung bei der Bildung der Kommission.

Bisher ist es so abgelaufen: Jedes Mitgliedsland schickte einen Vertreter nach Brüssel. Und die Staaten haben es gern getan - so gern, dass sie eine Regelung des Lissabonner Vertrags ausgehebelt haben, wonach die Kommission verkleinert werden sollte. Vorgesehen war, die Zahl der Mitglieder der Behörde auf zwei Drittel zu reduzieren. Doch haben die EU-Regierungen diese Vorgabe ausgesetzt - und zwar einstimmig.

Nun ist aber ein Fall eingetreten, der in den Verträgen nicht unbedingt vorgesehen ist. Großbritannien will aus der EU austreten, hat die Trennung aber bisher nicht vollzogen und daher als Mitglied weiterhin gewisse Verpflichtungen zu erfüllen. Als das ursprüngliche Brexit-Datum ohne Brexit verstrich, war klar, dass das Land an der EU-Wahl im Mai teilnehmen musste. Nun ist der Austritt bereits zum dritten Mal verschoben worden - und Großbritannien müsste einen Kandidaten für die neue Kommission nominieren. Deren künftige Präsidentin Ursula von der Leyen hat die Regierung in London auch schon schriftlich dazu gedrängt.

Adina-Ioana Valean soll das Verkehrsressort leiten.
© reu/Lenoir

Die Antwort aus dem Königreich liegt ihr mittlerweile vor. Gemäß Vorwahl-Richtlinien würden in der Zeit vor einem Votum keine Nominierungen für internationale Posten vorgenommen, heißt es in der Erklärung. Für den 12. Dezember ist auf der Insel eine Parlamentswahl angesetzt.

Rechtliche Komplikationen befürchtet

Wegen dieser Weigerung hat die EU-Kommission am Donnerstag ein Verfahren wegen Vertragsverletzung gegen Großbritannien eingeleitet. Brüssel habe an London ein Mahnschreiben geschickt, weil das Königreich seine Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag gebrochen habe, teilte die Behörde mit.

Sie gibt der britischen Regierung bis 22. November Zeit, deren Standpunkt zu erklären. Diese kurze Frist sei gerechtfertigt, weil die nächste EU-Kommission so früh wie möglich ihr Amt antreten müsse.

Als Starttermin ist der 1. Dezember angepeilt, was sowieso schon eine Verzögerung bedeutet. Denn ursprünglich war der Amtsantritt für 1. November geplant. Doch hatte das EU-Parlament drei Kandidaten für die Behörde abgelehnt, und Frankreich, Ungarn sowie Rumänien mussten neue Bewerber vorschlagen. Diese mussten sich dann eben am Donnerstag den Anhörungen im Abgeordnetenhaus stellen. All das führte zur ersten Verzögerung.

Eine weitere nur wegen Großbritannien wäre eine unliebsame Option für die EU-Institutionen. Daher suchen sowohl die Kommission als auch das EU-Parlament nach Wegen, die einen Kommissionsstart am 1. Dezember auch ohne britisches Mitglied ermöglichen - vor dem Hintergrund eventueller juristischer Komplikationen. Es gibt nämlich Befürchtungen, dass die Entscheidungen der künftigen Behörde anfechtbar werden könnten, wenn schon deren Amtsantritt rechtlich nicht völlig abgesichert ist.

"Es ist eine spezielle und komplexe Situation", räumte eine Kommissionssprecherin ein. Dennoch bleibe das Zieldatum der 1. Dezember. Welche Schritte nötig seien, um dieses Ziel zu erreichen, müsse noch geprüft werden. Parallel dazu wird in Kommissionskreisen darauf verwiesen, dass die Behörde sehr wohl Entscheidungen treffen kann, auch wenn das Gremium nicht vollzählig ist. Ihre Beschlüsse fasst sie nämlich nicht einstimmig, sondern mit der Mehrheit ihrer Mitglieder. Eine "Politik des leeren Stuhls", also eine Blockade durch Abwesenheit, sei daher nicht möglich - zumal Großbritannien betont habe, an der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft interessiert zu sein.

Tauziehen um Votum im EU-Parlament

Doch bleibt die Frage, ob das EU-Parlament ein Votum über eine möglicherweise nicht vollständige Kommission abhalten kann. Die Volksvertretung muss über das gesamte Gremium abstimmen, nachdem es schon im Sommer die Nominierung der Präsidentin abgesegnet hatte. Ausschlaggebend ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Das Votum wurde für den 27. November angesetzt, rechtzeitig für einen Arbeitsbeginn der Kommission am 1. Dezember. Ob dies auch ohne britischen Kandidaten haltbar ist, ist noch offen: Der juristische Dienst prüft das derzeit. Der Variante einer Kommission ohne britischen Kommissar müssten jedenfalls sowohl die Mitgliedstaaten als auch das EU-Parlament zustimmen.

Die Länder könnten ebenso die Regelung aus dem Lissabonner Vertrag wieder aktivieren. Dafür ist allerdings Einstimmigkeit nötig - und die Akzeptanz dafür, dass manche Staaten einen Kommissarsposten verlieren.

Oder aber es werden weitere Möglichkeiten geprüft, was dann doch zur nächsten Verzögerung bei der Kommissionsbildung führen kann. Ins Chaos stürzen würde dies die EU keineswegs. In dem Fall arbeitet die Kommission des scheidenden Präsidenten Jean-Claude Juncker noch ein paar Wochen länger.