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Jeremy Corbyn: Vom linken Kauz zum Rockstar - und retour

Von Siobhán Geets

Politik

Der Höhenflug des Labour-Chefs ist längst vorbei. Mit seinem Brexit-Kurs hat er viele Junge enttäuscht.


Im Sommer 2017 wird Jeremy Corbyn gefeiert wie ein Rockstar. Bei seinem Auftritt am Musikfestival Glastonbury beschwört er eine Gesellschaft, in der alle Menschen zählen, in der jeder seinen Platz hat. "Die Eliten liegen falsch!", ruft er, "Ihr seid viele, sie sind wenige!" Die Menge jubelt. "Ohhh Jeremy Corbyn" steht auf einem Schild inmitten eines roten Herzens. Das Festival markiert einen Höhepunkt in der Beliebtheit des Labour-Chefs bei jungen Menschen. Kurz zuvor hat er bei den Neuwahlen einen überraschenden Erfolg erzielt. Die Tories haben zwar gewonnen, doch Labour lag nur zwei Prozentpunkte hinter den Konservativen und konnte 30 Abgeordnete mehr ins Unterhaus schicken.

Seinen Erfolg hat Corbyn vor allem "Momentum" zu verdanken. Der Graswurzelbewegung war es gelungen, zahlreiche junge Menschen zu mobilisieren. Der alte Linke, der kauzige Außenseiter wurde zu einer Art Kultfigur. Sein Gesicht wurde auf T-Shirts gedruckt, auf Tassen und Plakate. Auch Musiker der britischen "Grime"-Szene, einer Mischung aus Hip Hop, Jungle und Elektro, unterstützten Corbyn öffentlich. Doch es ging schnell wieder bergab.

Heuer war der Labour-Chef nicht in Glastonbury, die "Grime4Corbyn"-Webseite existiert nicht mehr. "Der Enthusiasmus für Corbyn ist weg, die jungen Leute sind enttäuscht", sagt Eunice Goes von der Richmond University in London. Viele hatten gehofft, dass Labour zur Remain-Partei wird - umsonst. Vor dem Brexit-Referendum 2016 hatte sich der Oppositionschef nur halbherzig für den Verbleib in der EU eingesetzt. Danach lavierte er herum, seine Position zum Brexit blieb unklar, sein Kurs schlingerte. Den Wunsch seiner Partei, sich für ein zweites Referendum einzusetzen, hat Corbyn lange ignoriert.

Vor kurzem änderte der Labour-Chef seinen Kurs. Für den Fall, dass er nach den Wahlen am 12. Dezember Premier wird, verspricht er, das Austrittsabkommen mit der EU noch einmal zu verhandeln. Danach soll das Volk darüber entscheiden, ob es den neuen Brexit-Deal will oder das Land doch in der EU bleiben soll. Allerdings will sich Corbyn vor dem Referendum auf keine Seite schlagen, sondern "neutral" bleiben.

Immer gegen die EU

Als linker Antiimperialist war Corbyn immer europaskeptisch - und stimmte bei jeder Gelegenheit gegen die EU: Beim ersten Brexit-Referendum 1975 und später als Abgeordneter gegen die Verträge von Maastricht (1993) und Lissabon (2008). "Er freut sich über den Brexit, solange er keine Verantwortung dafür übernehmen muss", sagt Deirdre Heenan. Die Professorin für Sozialpolitik an der Ulster Universität im nordirischen Derry hat Corbyn an die irische Grenze begleitet. Diese war der Knackpunkt bei den Brexit-Verhandlungen, weil die EU Kontrollen nach dem Austritt des Königreichs unbedingt verhindern will. Mit Heenan fuhr Corbyn 2018 in die Grenzregion, wo die Angst vor einer Rückkehr der Kontrollen besonders groß ist. Dort traf Corbyn auch Vertreter der Handelskammer, alle sprachen sich gegen den Brexit aus. "Doch er hat nicht verstanden, dass es nicht nur um Zölle und Handel geht, sondern auch um den Friedensprozess nach dem Nordirlandkonflikt", sagt Heenan. "Er hat nicht verstanden, was die Grenze bedeutet."

Die Professorin ist nicht allein in ihrer Enttäuschung. In Zeiten des internen Kriegs bei den konservativen Tories wünschten sich viele Proeuropäer eine starke Opposition, die sich für den Verbleib einsetzt. Heenan ist überzeugt: "Corbyns Position zum Brexit wird ihn die Wahlen kosten." Tatsächlich hat der Labour-Chef es nicht geschafft, die Schwächen der Tories, die zahlreichen Lügen und Skandale, richtig zu nutzen. Die Konservativen sind zerrissen, doch um Labour steht es nicht viel besser. "Lexiteers", also Linke, die den Brexit wollen, sind eine Minderheit. Die meisten Labour-Mitglieder sind für den Verbleib, doch das hat Corbyn bislang wenig interessiert.

Nach seiner Wahl zum Parteichef 2015 weitete er die Kontrolle des linken Flügels über die Partei rasch aus und setzte seine Leute an hohe Posten. "Moderate Labour-Politiker halten Corybn für gefährlich, schaffen es aber nicht, einen starken Gegenkandidaten aufzustellen", sagt Goes.

Mit seinem Brexit-Kurs hat Corbyn seine Partei endgültig zerrissen, zahlreiche Abgeordnete haben Labour den Rücken gekehrt. Der Abgang von Proeuropäern wie dem Vize-Vorsitzenden Tom Watson macht es den Tories einfacher, Labour als rabiate Linksradikale darzustellen, die nichts als Enteignungen im Sinn haben.Corbyns Programm sei "klassisch sozialistisch", sagt Goes. Der Labour-Chef will einen Mindeststundenlohn von zehn Pfund einführen und hegt umfassende Verstaatlichungspläne. So will er nicht nur Wasserbetriebe, Eisenbahngesellschaften und die Post wieder unter die Kontrolle der Regierung stellen, sondern wie am Freitag angekündigt auch Teile der britischen Telekom verstaatlichen, um jeden Haushalt mit kostenlosem Breitband-Internet zu versorgen. Bürger sollen zudem sechs Jahre lang gratis studieren können. Das marode Gesundheitssystem NHS will Corbyn mit 26 Milliarden Pfund sanieren. Finanziert werden soll das durch höhere Steuern für die einkommensstärksten fünf Prozent. Zu Leibe rücken will Corbyn etwa dem "schlechten Chef" von Sports Direct, Mike Ashley, und dem "gierigen Bankier", Hedgefonds-Manager Crispin Odey.

Linker Parteirebell

Corbyns Positionen haben sich in 40 Jahren kaum verändert. 1949 geboren, tritt er als Teenager in die Partei ein, 1983 wird er Abgeordneter. Damals regiert Margaret Thatcher. Die "Eiserne Lady" dereguliert den Finanzsektor und privatisiert Staatsunternehmen, es ist eine schwere Zeit für Arbeiter und Gewerkschaften. Corbyn unterstützt die Minenarbeiter bei ihrem Streik, er setzt sich für die Rechte Homosexueller ein und tritt gegen das Apartheid-Regime in Südafrika auf.

Mit Tony Blair und dessen "New Labour", einer nach rechts gerückten Sozialdemokratie ab Mitte der 1990er, kann Corbyn nichts anfangen. Im Unterhaus stimmt er 428 Mal gegen die eigene Partei. Der Rebell bleibt in Opposition, selbst, als Labour regiert. Er ist gegen Privatisierungen, gegen die Kriege in Afghanistan und im Irak. Corbyn tritt für eine Verstaatlichung des öffentlichen Sektors ein und will die Sparpolitik beenden.

Als er 2015 Parteichef wird, hat Labour eine schwere Wahlniederlage hinter sich. Sein Weg an die Spitze wird von einer Wut auf das Establishment gestützt, das für die Reichen arbeitet und Arme noch ärmer macht. Junge Menschen treten der Partei bei - und machen Corbyn zum Chef. Er soll es richten, den "Dritten Weg" beenden und die Partei wieder nach links führen. Mit seiner sozialistischen Politik, seinem Ruf nach Gerechtigkeit hat Corbyn junge Menschen erreicht und ihnen wieder Hoffnung gegeben.

Kampagne ohne Corbyn

Doch der Höhenflug ist längst vorbei. Zwar ist die Graswurzelbewegung Momentum immer noch stark - tausende Wahlhelfer mobilisieren auch diesmal für Labour. "Doch fährt die Partei keine personalisierte Kampagne, wie die Tories das mit Premier Boris Johnson machen", sagt Politikwissenschaftlerin Goes. Das liegt vor allem daran, dass Corbyn unbeliebt ist: "Während sich bis zu 60 Prozent der Bevölkerung mit dem Wahlprogramm Labours identifizieren können, finden ebenso viele den Parteichef unsympathisch." Corbyn bietet viel Angriffsfläche, auch Antisemitismus wird ihm immer wieder vorgeworfen. Zusammenfassen lässt sich das mit dem "ABC-Dilemma": Antisemitismus, Brexit und Corbyn selbst.

Goes glaubt, dass Labour bei den Wahlen Sitze an die Liberaldemokraten verlieren wird, die sich klar für den Verbleib in der EU einsetzen. Indes spricht Corbyn lieber vom NHS. "Ein durchaus kluger Fokus im Wahlkampf", sagt Goes. Das NHS sei den Briten heilig - und das Vertrauen der Menschen in Labour sei hier größer als in die Konservativen.

Heenan ist da skeptischer. Andere, darunter Tony Blair, hätten mehr ins Gesundheitssystem investiert als Corbyns 26 Milliarden. An der Uni beobachtet sie, dass sich junge Menschen politisieren: "Sie schauen sich die Parlamentsdebatten an und werden wählen gehen." Nur eben nicht Labour.