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Weg von der reinen Lehre in der SPD

Von Alexander Dworzak

Politik
Kevin Kühnert erinnert plötzlich daran, dass die SPD mit einem Ausstieg aus der Regierung auch "einen Teil der Kontrolle" aus der Hand geben würde.
© reuters/Orlowski

Die neue Führung weicht ihren Anti-Koalitionskurs auf, sie muss beim Parteitag auch die Regierungsbefürworter mitnehmen. Die Parteilinke um Jungsozialist Kühnert steckt vorerst zurück.


Anna Tanzer hatte einen Traum. "Am Nikolaus ist GroKo-Aus", rief die Vorsitzende der bayerischen Jungsozialisten beim Bundeskongress, begleitet vom Jubel der Delegierten. Zwei Wochen später deutet kaum etwas darauf hin, dass der 6. Dezember tatsächlich zum Freudentag für die Gegner der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung im Bund wird, wenn die Mutterpartei SPD von Freitag bis Sonntag zum Parteitag zusammenkommt.

Dabei lief es für die Jusos erst wie nach Drehbuch. Sechs Monate nach dem Rücktritt von Andrea Nahles nach einer quälend langen Kandidatensuche ist die SPD nicht mehr führungslos. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken setzten sich überraschend als Vorsitzduo durch. Sie werden am Freitag von den Delegierten offiziell ins Amt gewählt.

Die Jusos demonstrierten damit, dass sie zum Machtfaktor aufgestiegen sind. 80.000 der rund 425.000 Mitglieder sind bei ihnen organisiert, der Sieg von "Nowabo" und Esken war auch ihr Erfolg. Insbesondere jener Kevin Kühnerts. Er holte die Teilorganisation aus dem Vorhof der Macht - wie es einst Sebastian Kurz mit der Jungen ÖVP vorgemacht hatte. Im Gegensatz zum früheren und wohl künftigen österreichischen Kanzler fehlen Kühnert noch die bundespolitischen Erfolge. Ambitioniert ist der Bezirkspolitiker in Berlin jedenfalls, das untermauert er nun mit seiner Kandidatur um einen Vize-Vorsitzposten der SPD.

Hier stand gar eine Kampfabstimmung gegen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der für eine Fortsetzung der großen Koalition eintritt, im Raum. Diesem Szenaraio will die SPD nun aber offenbar entgehen, indem es künftig fünf statt wie zunächst geplant drei Parteivize geben soll.

"Demokratischer Sozialismus"

Politisches Kapital erlangte der erklärte Sozialist Kühnert  mit seinem seit zwei Jahren währenden Kampf gegen die SPD-Regierungsbeteiligung. Parlamentsfraktion und Bundespartei räumten schrittweise ihre nach dem Wahldebakel 2017 - nur 20,5 Prozent für Deutschlands älteste Partei - getroffene Festlegung: "Der Platz der SPD ist in der Opposition." Der mittlerweile 30-Jährige blieb beim Nein und wurde damit Gesicht des Unmuts über die Parteioberen, auch wenn sich letztlich zwei Drittel der Mitglieder in einer Abstimmung für den Koalitionsvertrag aussprachen. Je öfter die Regierungspolitiker ihren Dissens öffentlich austrugen, je tiefer die Sozialdemokraten bei Landtagswahlen und in den bundesweiten Umfragen fielen, desto stärker stieg Kühnerts Ansehen in der Partei.

Wird er wirklich Vize, ist er der erste Jusos-Chef auf dem Posten. Frühere Vorsitzende der Jugendorganisation wie Gerhard Schröder begannen als selbsterklärte "Marxisten" und endeten als "Genosse der Bosse". Nun kündigen die kraftstrotzenden Jusos an, 50 Jahre nach der Linkswende ihrer Gruppierung "wollen wir jetzt die SPD auf Links wenden". Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ohne Ausnahmen für Betriebsvermögen, die Erhöhung der Erbschaftssteuer und Abschaffung aller Sanktionen bei der Grundsicherung sind für sie nächste Schritte "hin zum demokratischen Sozialismus" - ein Ziel, das nicht die Mutter SPD, sondern die Linkspartei in ihrem Programm festgeschrieben hat.

Chuzpe und Wortklauben

Ausgerechnet der Mann der reinen Lehre überraschte zuletzt mit einer zutiefst pragmatischen Ansage: "Wer eine Koalition verlässt, gibt einen Teil der Kontrolle aus der Hand. Auch das sollten die SPD-Delegierten bei ihrer Entscheidung berücksichtigen", sagte Kühnert der "Rheinischen Post". Er sorgte damit für derartige Irritation, dass er ein erklärendes Video nachschieben musste. Tatsächlich stellte er in dem Interview nochmals seine GroKo-Ablehnung klar. Kühnerts Chuzpe liegt im Beharren auf seiner Linie, während er andere belehrt, sie müssten bedenken, dass ihr Nein zur Regierungsbeteiligung auch Konsequenzen hat.

Erst gar nicht kommentiert hat der Großkritiker, dass der Leitantrag für den Parteitag die Frage nach dem Ausstieg aus der Regierung nicht ausdrücklich behandelt. Stattdessen ergeht er sich in der Spitzfindigkeit, die SPD wolle den Koalitionsvertrag gar nicht neu verhandeln. Es gehe um die dort festgeschriebene Revisionsklausel, um "neue Vorhaben zu vereinbaren, wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben". Abgesehen davon, dass Esken zuletzt vor einer knappen Woche sagte, sollte die Union nicht nachverhandeln wollen, müsse die SPD die Koalition verlassen: Für den Alltag der Bürger ist belanglos, ob neu verhandelt oder eine Klausel gezogen wird.

Mindestlohn-Erhöhung weit weg

Die bittere Wahrheit für alle Kühnert-Anhänger und jene, die große Hoffnung in das Duo Esken/Walter-Borjans gesetzt haben: Der Wahlkampf ist vorbei, die neue Führung muss nun auch die überwiegend Koalitionstreuen aus Bundestagsfraktion und Parteipräsidium und jene 47 Prozent der Mitglieder mitnehmen, die für den Kurs der unterlegenen Kandidaten, Finanzminister Olaf Scholz und Klara Geywitz, gestimmt haben. Der Leitantrag für den Parteitag ist daher weichgespült worden. Die geforderte Erhöhung des Mindestlohns von 9,19 auf 12 Euro fand sich im ersten Entwurf gar nicht. Sie rutschte dann doch in die endgültige Fassung, allerdings ist die Anhebung "perspektivisch" - also auf irgendwann verschoben. Vergeblich sucht man im Entwurf die bis zu 500 Milliarden Euro für Investitionen in den kommenden zehn Jahren. In der Klimapolitik wird ein "wirksamer CO2-Preis" verlangt, wiederum fehlen Details. Auch setzt die SPD ihren konservativen Koalitionspartnern keine Frist für die Umsetzung.

Nicht einmal eine Woche Ruhe

Derartig vage Forderungen - exklusive der Abkehr vom ausgeglichenen Bundeshaushalt - hätte wohl auch Vorsitzkandidat Scholz unterschrieben. Der Leitantrag sei nicht "die reine Lehre", gibt Esken zu. "Das ist das Wesen eines Kompromisses", sagt die Co-Vorsitzende nun salopp. Teile der Parteilinken wollen sich damit nicht abfinden, eine Vertreterin kündigte einen Antrag über eine Abstimmung zum Fortbestand der Regierung auf dem Parteitag an. Die in der SPD so ersehnte Ruhe hat keine Woche gehalten.