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Zittern vor Parlamentswahlen in Großbritannien

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Letzte Umfragen in Großbritannien schließen nicht aus, dass Torie-Chef die erhoffte Unterhausmehrheit verfehlt. Für die Pro-Europäer und ihre Parteien ist der Wahltag zur Zitterpartie geworden. Bei Labour liegen die Nerven blank.


In Großbritannien haben am Donnerstagmorgen die Parlamentswahlen begonnen. Zum dritten Mal in vier Jahren können die Briten über die Zusammensetzung der 650 Sitze im Unterhaus entscheiden. Die Wahllokale haben bis 22.00 Uhr (Ortszeit, 23.00 Uhr MEZ) geöffnet.

Unmittelbar danach wird eine Prognose im Auftrag der Fernsehsender BBC, ITV und Sky News veröffentlicht. Bei vier von fünf Wahlen seit der Jahrtausendwende lagen die Prognosen grundsätzlich richtig.

Doch die letzten Umfragen vor den Wahlen in Großbritannien am Donnerstag haben für neue Ungewissheit gesorgt. Demoskopen halten zwar einen Sieg der regierenden Konservativen für wahrscheinlich, schließen aber nicht mehr aus, dass Premier Boris Johnson die absolute Mehrheit im Unterhaus knapp verfehlt.

Bereits in den vergangenen Tagen hatte sich der beträchtliche Abstand zwischen den Tories und der oppositionellen Labour Party in mehreren Umfragen leicht verringert. Wachsende Sorge in der Bevölkerung um die Zukunft des schwer angeschlagenen nationalen Gesundheitswesens (NHS) hat der Regierung kurz vorm Wahltag zu schaffen gemacht. Eine Voraussage des YouGov-Instituts, das den Wahlausgang von 2017 recht genau prophezeit hatte, sprach von einer möglichen Mehrheit von 28 Sitzen für Johnsons Tories, hielt es aber auch für denkbar, dass sie am Ende ganz um ihre Mehrheit kommen.

"Taktisch Wählen" gegen Tories

Nur in rund einem Dutzend der insgesamt 650 Wahlkreise bräuchte es ein unerwartetes Ergebnis zugunsten der Opposition, und Johnson stünde erneut ohne klares Mandat und ohne parlamentarische Basis da. Zustande kommen könnte das durch "taktisches Wählen" im proeuropäischen Lager: Wähler, die einen Premier Johnson verhindern wollen, einigen sich innerhalb ihres jeweiligen Wahlkreises auf jenen Oppositions-Kandidaten, der die besten Aussichten hat, den konservativen Kandidaten aus dem Feld zu schlagen.

Ob es in vielen Wahlkreisen zu solchen Manövern kommt, ist allerdings nicht abzuschätzen. Außerdem macht das britische Mehrheits-Wahlrecht, das den Kandidaten mit den meisten Stimmen in seinem Wahlkreis ins Parlament schickt, jede Vorausberechnung schwierig.

Labour hat Wähler verschreckt

YouGov sah die Tories jedenfalls bei 43 Prozent und Labour bei 34. Den Liberaldemokraten gab das Institut zwölf Prozent. In Schottland erwartete es ein gutes Abschneiden der Schottischen Nationalpartei (SNP).

Labour-Chef Jeremy Corbyn appellierte am Mittwoch noch einmal an die Wähler, den Donnerstag dazu zu nutzen, Boris Johnson aus der Macht zu hebeln. Es bleibe gerade noch Zeit bis zur Schließung der Wahllokale am Donnerstagabend um 22 Uhr Ortszeit, sagte Corbyn, um eine Demontage des NHS durch die Tories zu verhindern - und einen harten Brexit abzuwenden. In einer besonders starken Position befindet sich Corbyn freilich nicht. Seine Erwartung, die Konservativen im Wahlkampf einzuholen, hat sich nicht erfüllt: Labour blieb fast die gesamte Zeit über deutlich - im Schnitt mit zehn Prozentpunkten - hinter den Tories.

Eine Fülle an radikalen Reformideen, Vergesellschaftungs-Plänen und staatlichen Investitions-Vorhaben habe die Wähler eher überfordert, vermuteten politische Beobachter. Auch angestammte Labour-Wähler äußerten Zweifel an der Finanzierbarkeit des linkssozialistischen Mega-Programms. Dazu kamen Zweifel am wirren Brexit-Kurs Corbyns, die Pro-Europäer und EU-Skeptiker gleichermaßen abstieß, sowie an Corbyn selbst. Der oft starr und defensiv wirkende Labour-Chef konnte jenseits seiner unmittelbaren Gefolgschaft keine Begeisterung auslösen.

Im Vergleich zum Wahlkampf von 2017, in dem er noch eine Neuheit auf der politischen Bühne war, machte der 70-Jährige dieses Mal einen müden Eindruck. Sein Wahlkampf nahm sich altbacken aus, den cleveren Einfällen des Johnson-Teams hatte er wenig entgegenzusetzen. Dazu kam der schwere Vorwurf, Corbyn habe dem Antisemitismus in der Partei nicht gewissenhaft gewehrt.

Jüdische Verbände und Zeitungen riefen dazu auf, Labour die Stimme zu versagen. Pro-Europäer klagten über Corbyns ausweichende Haltung in Sachen EU. Und in den alten Industriegebieten des Nordens meinten viele, sie sie hätten das Vertrauen in Labour verloren - und würden diesmal Tory wählen.

Optimismus der LibDems dahin

Wenig hilfreich war in dieser Situation, dass zwei Tage vor den Wahlen durch eine üble Indiskretion vertrauliche Äußerungen des Schatten-Gesundheitsministers Jonathan Ashworth über die "desolate" Lage seiner Partei an die Öffentlichkeit kamen.

Ashworth hatte einem konservativen Politiker, den er für seinen Freund hielt, gestanden, er halte Labours Situation außerhalb der Großstädte für "trostlos". Schuld daran sei "eine Kombination aus Corbyn und Brexit". Dass Jeremy Corbyn Premierminister werde, könne er sich absolut nicht vorstellen. Der "Freund" nahm das Gespräch heimlich auf und gab es weiter an die rechte Polit-Webseite "Guido Fawkes".

Nach dieser Beichte konnte Corbyn letztlich nur hoffen, dass eine ausreichende Zahl ehemaliger Labour-Wähler aus Angst vor fünf Jahren Johnson-Regierung ihrer alten Partei doch wieder die Treue halten würden, und dass Johnsons kompromissloser Brexit-Kurs genügend Widerstand gegen die Tories mobilisiert.

Bang sahen auch die pro-europäischen Liberaldemokraten unter Jo Swinson dem Wahltag entgegen, nachdem ihr anfänglicher Optimismus sich in den vergangenen fünf Wochen in Luft aufgelöst hatte. Statt der "dreistelligen" Zahl an Mandaten, von der Swinson einmal träumte, kann sich ihre Partei jetzt bestenfalls eineinhalb Dutzend Sitze erwarten - kaum mehr als beim letzten Mal.

Brexit-Partei spielt keine Rolle

Ungewiss ist nicht nur, ob frühere Stammwähler Labours in den alten Industriegebieten Nordenglands und der Midlands zu den Tories überlaufen oder diesmal zuhause bleiben, sondern auch, ob es im Großraum London und im Südosten Englands eine Bewegung in die Gegenrichtung gibt: Viele moderate Tory-Sympathisanten sind besorgt über den Rechtsruck in der Partei und die Risiken, die eine radikale Abkoppelung von Europa bringen würde.

Gänzlich untergegangen ist Nigel Farages Brexit-Partei, die noch bei den Europawahlen im Mai stärkste Partei war und auf 30,5 Prozent der Stimmen kam. In den Umfragen rangiert sie gerade einmal bei drei Prozent. Wähler, die den Brexit unbedingt wollen, sind bei Johnsons Tories gut aufgehoben.

Am Mittwoch bezeichneten Johnson wie Corbyn die Unterhaus-Wahl als "die wichtigste einer ganzen Generation" - teils wegen des Brexit, teils wegen der scharfen Kontraste der wirtschafts- und sozialpolitischen Programme der Parteien.

Johnson mahnte seine Anhänger, auf der Hut zu sein, die Wahl sei noch nicht gewonnen: "Wir brauchen jede Stimme."