Zum Hauptinhalt springen

"Das ist eine existenzielle Krise für Labour"

Von Klaus Huhold

Politik
Szene aus West Bromwich: Auch in dieser einstigen Labour-Hochburg hat ein Konservativer einen Sitz erobert.
© REUTERS

Die Tage von Parteichef Jeremy Corbyn sind gezählt. Doch das ändert nichts am Grundproblem für Labour, sagt die Politologin Eunice Goes. Die Partei weiß nicht, wie sie sowohl Arbeiter als auch urbane Mittelschicht ansprechen kann.


Nach dem Desaster will Jeremy Corbyn erst einmal nachdenken. Nachdem seine Labour Party mit nur 203 Sitzen das schlimmste Wahlergebnis seit 1935 einstecken musste, hat der Parteivorsitzende zu einem Reflexionsprozess aufgerufen. Einigen Labour-Mitgliedern ist aber schon längst der Geduldsfaden gerissen, und sie lassen Corbyn ihre Meinung zukommen. "Ich habe nachgedacht. Du hast versagt. Bitte trete zurück", twitterte die Abgeordnete Margaret Hodge, die in London ihren Sitz halten konnte.

Auch wenn andere Abgeordnete nicht so hart mit dem 70-Jährigen ins Gericht gingen, scheint Corbyn klar zu sein, dass seine Tage an der Parteispitze gezählt sind. Im Laufe des Freitags verkündete er dann, dass er bereit sie, die Partei anzuführen - bis Labour einen Nachfolger gewählt hat.

Labour steht vor einem Trümmerhaufen, und die Tragödie der Partei spielt sich in Wahlkreisen wie Darlington, Workington oder Burnley ab. Diese alten Industrieregionen waren alle Teil der sogenannten "Roten Mauer" und sind nun in der Hand der konservativen Wahlsieger. Das war einst unvorstellbar, 109 Jahre hat kein Konservativer in Burnley gewonnen, Darlington hatte Labour mit einer einzigen Unterbrechung seit 1918 gehalten.

In Darlington, Burnley und vielen anderen nordenglischen Arbeiterstädten hat aber auch eine Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt. Und das nannten - neben dem großen Misstrauen vieler Wähler gegen Corbyn - Labour-Vertreter als weiteren Grund für das Desaster. Wähler im Norden sahen demnach Labour als Pro-EU-Partei an, oder sie waren einfach verwirrt von dem Schlingerkurs der Partei. "Man kann Demokratie nicht ignorieren", sagte Ian Lavery, der in Wansbeck ganz knapp seinen Sitz für Labour halten konnte. Die Bürger im Norden seien erbost, dass der Brexit noch immer nicht vollzogen wurde. Als weitere Gründe für die Niederlage nannten Abgeordnete die mangelnde Distanz der Parteiführung vom Antisemitismus oder dass die Partei ihr ambitioniertes Sozialprogramm nicht glaubwürdig vertreten konnte.

Die einen sind für die EU,die anderen für den Brexit

"Das ist eine existenzielle Krise für Labour", sagt die Politologin Eunice Goes von der Londoner Richmond-Universität der "Wiener Zeitung". Doch diese kann nicht an einer einzelnen Person festgemacht werden. Vielmehr verfolgt die Partei seit Jahren ein strukturelles Problem, das sie auch mit anderen europäischen sozialdemokratischen Bewegungen teilt. "Sie ist mit zwei sich widersprechenden Wählergruppen konfrontiert."

"Auf der eine Seite stehen junge, urbane, gebildete Wähler aus der Mittelschicht, die in wirtschaftlichen Fragen sehr links und in gesellschaftlichen Fragen sehr liberal und kosmopolitisch eingestellt sind", sagt Goes, die seit Jahren zu Labour forscht und auch schon zwei Bücher über die Partei veröffentlicht hat. "Auf der anderen Seite haben wir die traditionelle Wählerschaft aus der Arbeiterklasse - die sich bei dieser Wahl zu einem großen Teil von Labour abgewandt hat." Die einen sind für den EU-Verbleib, die anderen für den Brexit. Die einen sind für eine offene, die anderen für eine restriktive Migrationspolitik.

Wer auch Labour in Zukunft anführen wird - genannt werden bereits verschiedene Namen wie der des Londoner Anwalts Keir Starmer oder der von Jess Phillips, die aus der einstigen Industriehochburg Birmingham stammt: Dieses Grundproblem bleibt bestehen. Es zu lösen, "ist eine Herausforderung für eine Dekade", betont Goes.

Vor allem in der Migrationsfrage würde hier Labour noch eine heikle Diskussion bevorstehen. Aber könnte paradoxerweise der Wahlsieg der Konservativen Labour dabei einiges ersparen. Denn die künftige Migrationspolitik werden die Konservativen bestimmen. Bei einem Brexit, wie ihn der künftige Premier Boris Johnson angekündigt hat, ist der freie Personenverkehr mit anderen EU-Staaten Geschichte. "Und dann kann auch Labour argumentieren, dass man sich einfach damit abfinden muss."

Allerdings droht hier laut Goes auch schon wieder der nächste Konflikt: "Was passiert dann mit all den jungen Unterstützern von Labour, die dafür eintreten werden, dass Großbritannien wieder in die EU eintritt?"

Viele Wähler haben Johnson ihre Stimme gegeben, damit er, wie versprochen, den Brexit liefert. Und auch ein guter Teil der Zukunft von Labour liegt nun in den Händen der Tories. Denn wenn, und das ist laut Ökonomen nicht unwahrscheinlich, bei einem Brexit noch mehr Arbeitsplätze in der Industrie verloren gehen, dann könnten viele Briten Johnson wieder den Rücken zukehren. Denn eines ist klar: Die Stimmen, die die Tories nun in den Arbeiterstädten im Nordosten und den Midlands erhalten haben, sind nur geliehen.