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Das Ich und Du in der Demokratie

Von Martyna Czarnowska

Politik

Die liberale Gesellschaftsordnung war schon immer ein Schaffensprozess - und ist daher auch 2020 nicht krisensicher.


Am Anfang stand eine Krise. Am Anfang der Demokratie. Wegen der Habsucht und Unersättlichkeit führender Zirkel war ein Großteil der Athener Bevölkerung in Armut und Verschuldung geraten. Bürgerkrieg drohte. Doch dann wurde der gesellschaftliche Konflikt auf eine völlig andere Weise gelöst, auf eine Weise, die Weltgeschichte machte: Etabliert wurde die Demokratie.

Mit dieser Erzählung leitete Ursula Baatz, die Kuratorin des Symposion Dürnstein, ihren Beitrag bei der Veranstaltung in Wachau im März ein. "Die Alternative zu Demokratie ist Demokratie" lautete der Titel. Denn trotz aller Schattenseiten der antiken Form, in der nicht einmal die Hälfte der erwachsenen Bewohner stimmberechtigt waren, hat die Demokratie ihre Anziehungskraft nicht verloren. "Die Ingredienzen, die der Weise Solon den Athenern vor zweitausendsechshundert Jahren verordnete, sind einfach und bis heute gültig: eine gerechte soziale Ordnung, die aktive Beteiligung und Mitverantwortung aller Bürger an politischen Entscheidungen, für alle verbindliche Gesetze als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung", meint Baatz.

Allerdings wird heute erneut von einer Krise gesprochen - von einer der Demokratie. Diese sei bedroht vom Populismus, von einer Abkehr von liberalen Werten, heißt es da. Statt Offenheit gebe es einen Rückzug in Nationalismen, in die engen Grenzen der eigenen Gewohnheiten. Die Angst vor dem Fremden werde geschürt, seinesgleichen überhöht. Politiker, die diese Ängste bedienen und schnelle Problemlösungen anbieten, werden gewählt. Daher darf sich auch in den Jubel über die hohe Wahlbeteiligung bei der EU-Wahl im Mai auch etwas Unbehagen mischen: Denn es waren vor allem jene Parteien, die mit Schutzversprechen und EU-Skepsis operiert haben, die ihre Sympathisanten mobilisieren konnten. Dass sich auf der anderen Seite des politischen Spektrums etwa die Grünen über Stimmengewinne freuen konnten, ist wiederum keineswegs ein europaweites Phänomen, vielmehr ein nordisches. Ein paneuropäischer Trend ist paradoxerweise der Nationalismus.

Illiberale Grenzverschiebungen

Wie sehr bedroht das die Demokratie? Krise hin oder her - Demokratie war schon immer ein Schaffensprozess und kein festes Gefüge, das, einmal errichtet, jeder Erschütterung standhält. So können einigen Bürgern Verformungen mit autoritären Zügen durchaus attraktiv erscheinen. Die illiberale Demokratie, wie sie Ministerpräsident Viktor Orban versteht und für die es noch genug Unterstützung bei Urnengängen gibt, findet nicht nur in Ungarn ihre Anhänger und Bewunderer. In Polen, aber auch in manchem westeuropäischen Land blicken einige Politiker neidisch auf den Umbau des Staates, der die Macht des Zentrums stärkt. Dabei haben die Menschen in Polen und Ungarn sich über die Jahrzehnte jene demokratischen Standards erkämpfen müssen, die nun ausgehöhlt werden könnten von demokratisch gewählten Volksvertretern.

Denn das Modell der illiberalen Demokratie ist "ein Versuch, Grenzen zu verschieben, in denen ein paar Grundsätze gelten müssen, damit eine Demokratie als solche bezeichnet werden darf", erklärt die Politik- und Rechtswissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle: "Es gibt also die Möglichkeit zu sagen: Es gehe auch ohne freie Medien oder freie Kunst. Oder: Menschenrechte könnten etwas eingeschränkt werden und nur für Staatsbürger gelten." Das sei also keine Alternative für eine Demokratie in ihrem klassischen Sinn, die "nur mit Parteien, Parlament und Repräsentation, gemischt mit anderen Elementen" funktioniere.

Doch auch in gefestigten Systemen ortet Stainer-Hämmerle "Warnsignale", dass es zu einer Krise kommen könnte. Bei den Parteien sei es "das Aufwölben der Ränder, rechts oder links". So entstünden Gruppierungen, die populistisch und nicht unbedingt von einem pluralistischen Demokratieverständnis geprägt seien.

Demokratie ist auch verlernbar. Das könne schnell passieren, betont die Politologin. Das könne einhergehen mit Ängsten in der Bevölkerung, die geschürt werden, "mit einem Ereignis, mit einem gesellschaftlichen Angebot einer Gruppe, die ernsthaft die Abschaffung der Demokratie betreibt, mit der Unterminierung von Verfahren und Institutionen".

Regional auf EU-Ebene

Die Konzepte aber, wie Demokratie gestärkt werden könnte, sind unterschiedlich. In der EU beispielsweise setzen manche auf eine Europäisierung, in die das liberale Element eingeschrieben ist. Andere wiederum schlagen Regionalisierung vor, wenn auch im EU-Rahmen eingebettet.

So haben vier ost- und mittelosteuropäische Bürgermeister in der Vorwoche in Budapest einen "Pakt freier Städte" unterzeichnet. Die Stadtoberhäupter befinden sich alle in einer gewissen Opposition: Sie gehören alle weniger konservativen Parteien an als jene, die in ihren Ländern die Regierung stellen. Und sie alle wollen für Werte eintreten wie menschliche Würde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaat, soziale Gerechtigkeit, kulturelle Vielfalt und Anti-Diskriminierung, wie die Bürgermeister von Budapest, Warschau, Prag und Budapest in ihrer Erklärung festhalten.

Sie plädieren für eine "sich von unten aufbauende Demokratie", die sie populistischen Trends entgegensetzen möchten. Und sie haben auch eine handfeste, finanzielle Anregung parat. EU-Förderungen, die auf die Entwicklung der Städte gerichtet sind, sollten direkt an diese gehen. Bisher sind die Bundesregierungen für die Verwaltung zuständig.

Rechtsstaatlichkeit wird konkret

Von diesen vier Kabinetten sind zumindest zwei in Konflikt mit den EU-Institutionen geraten. Gegen Polen hat die EU-Kommission ein Verfahren zur Überprüfung der Grundwerte eingeleitet, und auch in Ungarn wird der Stand der Rechtsstaatlichkeit unter die Lupe genommen. Den nationalkonservativen Regierungen wird vorgeworfen, mit Justizreformen die Unabhängigkeit der Gerichte zu gefährden. In Warschau und anderen polnischen Städten flammen die Straßenproteste gegen die geplanten Änderungen immer wieder auf.

Auch das sind Bemühungen, "von unten" die Demokratie zu stützen. Rechtsstaatlichkeit ist da nicht mehr bloß ein abstrakter Begriff, sondern nimmt konkrete Gestalt an: die von Richtern, die es zu verteidigen gilt, damit sie nicht von der Regierung genehmen Personen ersetzt werden. Zum Schlüsselwort bei den Demonstrationen wurde ein weiterer, ansonsten meist ebenso wenig fassbarer Begriff: die Verfassung. Ihren Schutz haben sich die Protestierenden auf die Fahnen geheftet, und auf ihren Plakaten wurde das polnische Wort dafür so in Silben getrennt, dass darin "Du" und "Ich" zu lesen waren (kons-TY-tuc-JA). So nahm auch die Verfassung Gestalt an, in Form von Menschen, die sich mit der gesellschaftlichen Ordnung identifizieren, die der Gesetzestext festlegt.

Bürgersein als Handlungsaufruf

Eine andere Art von Protestbewegung ist jene der Jugendlichen, die bei den "Fridays for Future" Maßnahmen zum Klimaschutz fordern. Die Wissenschafterin Stainer-Hämmerle sieht darin eine Politisierung der Jugend, die zunächst einmal ein gemeinsames Erlebnis auf der Straße hat. Aber außerdem bemerken die Demonstranten, dass sie gehört werden und ihnen teilweise recht gegeben wird. Das wiederum könnte so manche von ihnen anspornen, weiterzumachen. "Einige werden sich wahrscheinlich weiter politisch engagieren - sei es in der Parteipolitik, in etablierten oder neuen Gruppierungen, sei es bei Nichtregierungsorganisationen oder in Medien", meint Stainer-Hämmerle: "Sie werden zu aktiven Bürgern."

Das sei langfristig ausschlaggebend für Demokratie. Denn: "Grundlage des Bürgerseins ist, dass nicht alles delegierbar, sondern auch eigenes Handeln erforderlich ist. Und wenn es nur aktives Informieren ist." Das müsste freilich mehr beinhalten, als Meldungen in sozialen Netzwerken auf dem Handy zu konsumieren.

Partizipation, Mitgestaltung, die über die Abgabe eines Stimmzettels bei Wahlen hinausgeht, ist wesentlich für demokratische Prozesse. Da sind sich die meisten Experten ebenso einig wie in der Einschätzung, dass die etablierten, ehemaligen Volksparteien dringend ihre Strategien ändern müssen. Stillstand ist nicht möglich.

Ursula Baatz zitiert einen weiteren antiken Weisen. Sokrates hat die Demokratie mit einem großen, edlen Pferd verglichen, das wegen seiner Größe etwas träge ist. Daher brauche es immer wieder Ansporn, um in Bewegung zu bleiben.