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"Teilhabe heißt, dass andere teilen müssen"

Von Michael Ortner

Politik

Wenn Integration gelingt, werden die Konflikte nicht weniger, sondern mehr, sagt der deutsche Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani. Denn dann artikulieren auch jene Gruppen, die bisher im Abseits standen, ihre Interessen deutlich stärker.


Die Familie sitzt zur Weihnachtszeit an einem großen Tisch zusammen. Von Onkel Hans bis zur Enkelin Marie, zu den Feiertagen kommen alle zusammen. Das gemeinsame Essen hat Tradition. Ein Kuchen wird als Dessert aufgetischt. Die Familie bleibt aber nicht unter sich. Ali aus dem Irak, Mohammed aus Syrien und Selin aus der Türkei quetschen sich dazu. Sie wollen auch ein Stück vom Kuchen. Die weihnachtliche Harmonie ist verflogen. Am Tisch herrscht plötzlich schlechte Stimmung. Ein Konflikt bahnt sich an.

Die Szene mag auf den ersten Blick irritieren. Der deutsche Politikwissenschafter Aladin El-Mafaalani bedient sich der Metapher mit dem Tisch, um das Phänomen Integration zu erklären. Gelingt sie, führt dies nicht zu weniger, sondern zu mehr Konflikten. Das ist die Kernthese, die er auch in seinem Buch "Das Integrationsparadox" vertritt. "Wenn Menschen mit Behinderung, Frauen, Migranten oder LGBTQI vorher ausgeschlossen waren, dann sind sie nun Teil der Tischgesellschaft. Sie sagen aber nicht, was alle hören wollen, sondern sie vertreten neue Interessen", sagt El-Mafaalani im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Die Tafel wird also bunter, vielfältiger. Es kommen neue Interessen ins Spiel. "Immer mehr und immer unterschiedlichere Menschen wollen mitmachen. Ihre Teilhabe bedeutet, dass andere teilen müssen", sagt El-Mafaalani. Symbolisch wird nur der Kuchen geteilt. Doch es geht um viel grundlegendere Dinge wie Identität und Heimat. Für die Mehrheit am Tisch wird es anstrengend, übertragen auf die Gesellschaft bedeutet es Stress.

Das Schwierige sei jedoch gar nicht die Größe des Kuchens, sondern seine Rezeptur. Das Rezept spiegle die alte Zusammensetzung der Gesellschaft. "Es ist eine Herausforderung für offene Gesellschaften, weil sich eben so viele Gruppen gleichzeitig einmischen", sagt der promovierte Soziologe.

Harmonie ist ein Trugschluss

El-Mafaalani zieht in diesem Zusammenhang einen historischen Vergleich. Die Gastarbeiter im Deutschland der 1960er- und 1970er-Jahre saßen noch am Boden. Die Kinder dieser Generation haben sich allerdings nach und nach auch an den Tisch gesetzt. "Alle haben die Vorstellung: Wenn Integration gelingt, wird es gemütlich, harmonisch und konfliktfrei." Ein Trugschluss. Denn die Tischgesellschaft werde immer dynamischer, es ändere sich vieles. El-Mafaalani nennt die deutsche Sprache als Beispiel. Sie sei eine "intime Zone" der Gesellschaft. "Die Schönheit der deutschen Sprache basiert auf Unterdrückungsverhältnissen. Wenn wir gendern, geht die ganze Schönheit verloren."

Integration gebe es auf zwei Ebenen, sagt der Migrationsforscher. Migranten in Deutschkursen und auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen sei die Mikroebene. Auf der Makroebene müsse man die Gesellschaft fit machen, um diese Teilhabe zu ermöglichen. Und wie gelingt das in Deutschland? "Es läuft eigentlich ganz gut mit der Integration", sagt El-Mafaalani, den die "NZZ" "Optimist der Migrationsdebatte" und die "Zeit" den "Anti-Sarrazin" nannte. "Dass ein Flüchtling nach zwei Jahren Deutsch kann und in einem qualifizierten Job unterkommt, wäre vor 30 Jahren unvorstellbar gewesen. Der durchschnittliche Geflüchtete von 2015 kann heute besser Deutsch sprechen als der durchschnittliche Gastarbeiter, der vor 60 Jahren gekommen ist."

Alles bestens also? Seine gewagte These gilt in Deutschland nicht als unumstritten. Rassismus, Islamisierung, schlechte Bildung bei Einwandererkinder: Kritiker werfen ihm vor, die Welt durch eine rosarote Brille zu sehen. El-Mafaalani gibt zu, es hapere noch bei der Integration als Ganzes, gesellschaftliche Strukturen seien überfordert. "Ich bin total einverstanden, wenn man findet, dass das immer noch nicht genug ist." Er widerspricht aber den Menschen, die sagen, "es läuft schlecht".

Er vergleicht die Gesellschaft von heute und gestern. Sein Fazit: "Je höher der Migrantenanteil, desto besser geht es einer Stadt. Gleichzeitig führt dies aber auch zu Stress in der Gesellschaft."

Keine Erfahrung mit Migration

Was sagt El-Mafaalani dann zu Parallelgesellschaften, patriarchalen Familienstrukturen, veralteten Frauenbildern und einem Islam mit Absolutheitsanspruch? Er verneint diese Probleme nicht und greift wieder auf seine Tisch-Metapher zurück. "Ein Teil der Menschen sitzt immer noch nicht am Tisch. Entweder diese Menschen resignieren oder sie bauen parallelgesellschaftliche, solidarische Strukturen auf."

Islamistische Strömungen seien außerdem - genauso wie etwa populistische Bewegungen - eine Antwort auf zu viel Offenheit. Die jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen würden das belegen. Die AfD hat in den drei ostdeutschen Bundesländern jeweils zweistellige Prozentzuwächse verzeichnet und liegt in allen drei Ländern auf dem zweiten Platz. Handelt es sich hierbei auch um einen Konflikt, der durch zu viel Integration entstanden ist? Im Prinzip ja, sagt El-Mafaalani, der der Ansicht ist, dass es den Ostdeutschen nicht mehr reicht, ein Stück vom Kuchen zu bekommen. Sie wollen die Rezeptur ändern. "Völlig zu Recht sagen Ostdeutsche, dass sie im gesamtdeutschen Narrativ nicht mehr vorkommen." Der Erfolg der AfD im Osten Deutschlands beruht dem Forscher zufolge zu einem großen Teil auf den extremistischen Strömungen, die das Ostdeutsche stärker betonen würden.

Es gebe aber noch einen anderen Grund. Die Abwehrhaltung gegenüber Migration. "Ostdeutschland hat im Gegensatz zu Westdeutschland überhaupt noch keine Erfahrung mit Migration", sagt El-Mafaalani. Eine Gemeinsamkeit zu Westdeutschland ortet der Forscher aber: "Die Wortwahl der AfD ist nicht so weit entfernt von der der westdeutschen Politiker in den 60er- und 70er-Jahren."

Rassismus wird aggressiver

El-Mafaalani räumt in seinem Buch noch mit einem anderen Trugschluss auf. Wenn Integration gelingt, nimmt Rassismus ab. Seine These geht in die entgegengesetzte Richtung: "Kann es sein, dass sich der Rassismus verschärft, also lauter und aggressiver wird, wenn die Integration Zuwächse hat?" Westdeutsche Integrationspolitik sei durch ganz bestimmte Vorfälle begründet worden, sagt der Forscher. "Die rechtsextreme Übergriffe in den 1990ern haben in den meisten Bundesländern dazu geführt, dass man sagt: Wir brauchen Integrationspolitik." Aus heutiger Sicht sei diese Reaktion absurd. "Man hat geglaubt, wenn man die Menschen integriert, dann gibt es keinen Rassismus mehr", sagt El-Mafaalani. Er führt die USA als Beispiel an. "Die Soziologen in den USA sagen heute: Trump wäre niemals Präsident geworden, wenn vorher nicht Obama an der Macht gewesen wäre." Forscher bezeichnen diese Reaktion als "backlash", also als einen radikalen Rückschlag gegen eine gesellschaftliche Entwicklung. Rassismus sei ein Problem, aber es lasse sich nicht einfach mit Integration verbinden.

Aladin El-Mafaalani (geb. 1978) lehrt am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Osnabrück. Er war eineinhalb Jahre Abteilungsleiter im Integrationsministerium von Nordrhein-Westfalen. Sein Buch "Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt" ist 2018 beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Er war Anfang Dezember zu Gast beim Integrationsgipfel in Wien.