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Fragiler Kompromiss in Nordirland

Von Siobhán Geets

Politik

Drei Jahre nach dem Ende der Koalition in Nordirland gibt es wieder eine Regierung, doch deren Sprengkraft ist groß. Mit der Eile Londons beim Brexit ist die Gefahr einer harten Grenze in Irland wieder auf dem Tisch.


Fast auf den Tag genau drei Jahre hat es gedauert, bis sich die beiden dominanten Parteien Nordirlands, die irisch-katholische Sinn Féin und die unionistisch-protestantische DUP, auf eine Neuauflage ihrer Koalition geeinigt haben. Am Montag reisten die Premierminister Irlands und Großbritanniens, Leo Varadkar und Boris Johnson, für Gespräche mit der Ersten Ministerin Arlene Foster von der unionistischen DUP und ihrer (de facto gleichberechtigten) Stellvertreterin Michelle O’Neill von der republikanischen Sinn Féin nach Belfast. Johnson sprach davon, dass nun eine "historische Zeit" für Nordirland angebrochen sei.

Mit der Einigung ist die alte Ordnung wiederhergestellt: Das Karfreitagsabkommen von 1998, das den Nordirlandkonflikt beendete, sieht vor, dass sich Katholiken und Protestanten die Macht teilen. Nun, da sie einen Kompromiss gefunden haben, liegen wichtige Entscheidungen in Bereichen wie Bildung und Gesundheit wieder in der Hand der nordirischen Parteien im Belfaster Parlament Stormont. Doch ihr Einfluss ist begrenzt - zumindest was den bevorstehenden Brexit angeht.

London droht Klage

Rund 56 Prozent der Nordiren haben 2016 gegen den EU-Austritt gestimmt, einzig die DUP war damals dafür. Doch das ändert nichts daran, dass Nordirland die EU gemeinsam mit Großbritannien verlässt. Am 31. Jänner soll der Brexit vollzogen werden, bis Ende des Jahres will Johnson ein Freihandelsabkommen mit Brüssel vereinbaren. Dann endet auch die Übergangsfrist, in der vorerst alles so bleibt, wie es ist. Diese Periode zu verlängern, hat der Premier ausgeschlossen - und sogar ein Gesetz auf den Weg gebracht, das eine solche Verlängerung verbietet. Damit kann Johnson sein größtes Versprechen einlösen und die Beziehungen mit der EU Ende des Jahres kappen.

Ein rascher Austritt ohne viel Vorbereitung betrifft vor allem Nordirland: Johnsons Austrittsabkommen sieht vor, dass die britische Provinz im Binnenmarkt der EU bleibt, damit es keine Kontrollen an der Grenze zur Republik Irland geben muss. Das bedeutet, dass Waren und Güter zwischen Großbritannien und Nordirland kontrolliert werden müssten. In den Häfen Nordirlands würden Zöllen eingehoben, Lebensmittel und Vieh müssten kontrolliert werden - ein großer bürokratischer Aufwand, der nach Johnsons Plan bereits Ende des Jahres funktionieren muss.

Doch das ist laut Experten so gut wie ausgeschlossen. "Keine der Parteien in Nordirland unterstützt den Brexit-Deal und es ist für die Regierung und Unternehmen nahezu unmöglich, die praktischen Veränderungen bis Ende des Jahres abzuschließen", heißt es in einer Analyse der Denkfabrik "Institute for Government". Funktioniert das System bis zum Ende der Übergangsfrist nicht, dann könnte die EU-Kommission rechtliche Schritte gegen Großbritannien einleiten, so die Experten. Mir einem EU-Austritt Ende Jänner "wird der Brexit auf gewisse Weise vollzogen sein, doch viele der größten Aufgaben sind damit noch lange nicht bewältigt". Für die britische Regierung bliebe der Brexit die größte Herausforderung seit Jahrzehnten.

Im schlimmsten Fall, wenn die Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland nicht funktionieren, muss es doch eine harte Grenze in Irland geben - ein Albtraum für die Wirtschaft auf der Insel. Die irische Grenze wird wohl auch bei den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen eine Rolle spielen. In diesem Sinne richtete auch der irische Vize-Premier Simon Coveney am Montag warnende Worte an London. Johnson habe seinen ambitionierten Zeitplan für ein Handelsabkommen mit der EU in britisches Recht gegossen, doch dieses gelte in den restlichen 27 EU-Staaten nicht: "Die EU wird sich nicht hetzen lassen, nur, weil Großbritannien ein Gesetz beschlossen hat."

Zwei "Sprachkommissare"

Mit der Einigung in Belfast hat Nordirland immerhin wieder eine eigene Stimme. Gelungen ist sie auch durch einen Kompromiss, der absurd wirken mag. Einer der Gründe für das Scheitern der Koalition vor drei Jahren war die Ablehnung der DUP gewesen, die irische Sprache aufzuwerten. Sinn Féin hatte ihre Gleichstellung gefordert, also etwa zweisprachige Straßenschilder und die Möglichkeit, auch vor Gericht irisch zu sprechen. Doch die Unionisten sahen dadurch ihre britische Kultur bedroht. Künftig soll es nun zwei "Sprachkommissare" geben: Einen für Irisch und einen für "Ulster Scots und die damit verbundene Kultur", also den englisch-schottischen Dialekt, der ab dem 17. Jahrhundert mit den protestantischen Siedlern nach Nordirland kam. Ob das die von Sinn Féin eingeforderte Gleichstellung der irischen Sprache bedeutet, bleibt freilich abzuwarten.

Andere mögliche Sprengkräfte für die neue alte Koalition sind das Gesundheitssystem NHS (nirgends im Vereinigten Königreich sind die Wartezeiten für Behandlungen länger als in Nordirland) und der Skandal um ein Förderprogramm für erneuerbare Energien, der die Regierung vor drei Jahren endgültig gesprengt hatte. Foster, deren DUP für die Verschwendung von Millionen an Steuergeldern verantwortlich ist, hatte sich geweigert zurückzutreten und damit eine Aufklärung des Skandals verhindert. Demnächst soll der Bericht über die Angelegenheit vorliegen - und Foster könnte erneut zum Rücktritt aufgerufen werden.

Die Fronten sind geblieben

Hinzu kommt, dass sich an der alten Feindschaft zwischen den beiden Parteien nichts geändert hat: Die Fronten sind geblieben, die Themen dieselben, der Kompromiss fragil. Dass er jetzt, drei Jahre nach dem Ende der Koalition, doch gelang, liegt am Druck, der auf den Parteien lag: Wäre es bis diesen Montag nicht zu einer Einigung gekommen, hätte es Neuwahlen gegeben. Dieses Risiko wollten wohl beide verhindern: Bei den britischen Parlamentswahlen im Dezember hatten sowohl DUP als auch Sinn Féin tausende Stimmen eingebüßt.