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"Putin will kein russischer Mugabe werden"

Von Gerhard Lechner

Politik

Russland-Experte Alexander Dubowy spricht darüber, warum der Kremlchef voraussichtlich 2024 abtreten wird - und wieso durch die jüngsten Neuerungen nicht das Parlament, sondern der Präsident "massiv gestärkt" wurde.


"Wiener Zeitung": Russlands Präsident Wladimir Putin hat im Jänner mit der Auswechselung der Regierung und der Ankündigung, mittels einer Verfassungsreform das Parlament aufwerten zu wollen, viele überrascht. Mittlerweile schreiben Beobachter aber, dass durch die Neuerungen nicht das Parlament, sondern der Präsident gestärkt werden würde. Ist das so?

Alexander Dubowy: Ja. In den jetzigen Entwürfen gibt es keine Ansätze in Richtung einer parlamentarischen Republik. Ganz im Gegenteil: Der Präsident ist massiv gestärkt worden. Und das, obwohl er von russischen Verfassungsjuristen schon bisher als vierte Gewalt im Staat bezeichnet wurde, die über den drei klassischen Gewalten steht.

Welche Rechte hat der Präsident in Zukunft, die er jetzt noch nicht hat?

Beispielsweise kann er die Leiter föderaler Behörden, auch die Minister, in den Bereichen Verteidigung, Sicherheit, Inneres, Justiz, Äußeres, Katastrophenschutz oder öffentliche Sicherheit nunmehr nicht nur ernennen, sondern auch abberufen. Das war vorher nicht der Fall. Außerdem wurde ein zweites Vetorecht des Präsidenten eingeführt. Bis jetzt hatte dieser Gesetze zu unterzeichnen, wenn das Parlament einen Beharrungsbeschluss gefasst hat, also auf einem Gesetz bestanden hat. Nun kann er in einem solchen Fall das Verfassungsgericht anrufen.

Dort gibt es ja ebenfalls Änderungen.

Ja. Es soll nunmehr in der Verfassung festgeschrieben werden, dass der Vorsitzende, sein Stellvertreter und die Richter in Zukunft ebenfalls vom Präsidenten ernannt werden sollen. Das war vorher nicht der Fall. Das ist eine ziemliche Machtkonzentration beim Präsidenten, die wir da erleben. Obwohl in Zukunft ein Präsident nur noch zwei Amtszeiten amtieren darf.

Hat Putin diese Stärkung seiner Position nötig? Er verfügt ohnehin über mehr als genug Macht und hat auch im Parlament, der Staatsduma, die Mehrheit hinter sich.

Nun - zumindest Letzteres könnte sich ändern. Denn in Russland rumort es schon seit einiger Zeit. Die Bevölkerung verliert zunehmend den Wohlstand, den sie noch vor einigen Jahren genoss. Die Kremlpartei "Einiges Russland" büßt an Zustimmung ein. Lange Zeit war die Kremlnähe von Gouverneurskandidaten eine Art Garantie für deren Wiederwahl. Jetzt nicht mehr. Mittlerweile schaffen es selbst bislang völlig chancenlose Kandidaten, die Wahl gegen kremlnahe Personen zu gewinnen. Und im Herbst 2021 finden in Russland Parlamentswahlen statt, die die Kremlpartei, wie es jetzt aussieht, massiv verlieren könnte. Da es schon bei Putins Wiederwahl 2018 Proteste gab, wird man die Wahlen nicht allzu offensichtlich oder grob fälschen können. Putin könnte also ab 2021 mit einem oppositionellen, sozusagen präsidentenunfreundlichen Parlament konfrontiert sein. In diesem Zusammenhang ergibt die Stärkung der Macht des Präsidenten Sinn. Durch die Verfassungsänderungen sichert sich Putin gegen alle Überraschungen ab. Er will auch in einer solchen Situation die Kontrolle behalten - gerade im Hinblick auf den anstehenden Machttransit im Jahr 2024.

Aber wird es den auch wirklich geben? Ist die Stärkung des Präsidentenamtes nicht ein Hinweis darauf, dass Putin auch nach dem Ende seiner Amtszeit 2024 im Kreml bleiben könnte? Mit irgendeinem Trick?

Das ist eher unwahrscheinlich. Putin wird auch nicht jünger, und ich würde bezweifeln, dass er als eine Art russischer Robert Mugabe (der Langzeit-Präsident von Simbabwe, Anm.) in die Geschichte eingehen möchte. Dazu ist er auch zu stolz. Davon abgesehen ist in der jetzigen Verfassungsnovelle vorgesehen, dass ein Präsident nur noch zwei Amtszeiten amtieren soll - das "in Folge", das zuvor dort gestanden hat und Putin Amtszeit Nummer drei und vier ermöglicht hat, wurde gestrichen.

Die Möglichkeit, zu sagen: Wir fangen nach der Novelle wieder von vorn zu zählen an, gibt es nicht?

Nein. Da müsste schon eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Als Präsident kann Putin 2024 nicht mehr kandidieren.

Riskiert Putin damit nicht auch einiges? Schließlich gibt er damit 2024 mehr oder weniger die ganze Macht an einen Nachfolger ab. Damit wäre er aber auch angreifbar. Ist es möglich, dass sich Putin durch einen Wechsel in den sogenannten Staatsrat absichert, der jetzt aufgewertet werden soll?

Der Staatsrat wurde durch Putin im Jahr 2000 gegründet. Bis jetzt ist er ein reines Beratungsgremium. In dem neuen Entwurf heißt es nun, dass dieser Staatsrat, dessen Zusammensetzung vom Präsidenten entschieden wird, unter anderem die Leitlinien der Innen- und Außenpolitik vorgeben soll. Das heißt aber nicht, dass der Präsident entmachtet wird, der laut Artikel 80 der Verfassung dafür letztzuständig ist. Die Änderung hebt diese präsidialen Kompetenzen nicht auf. Der Staatsrat bleibt also ein Beratungsgremium.

Der Nachfolger könnte ein Staatsratsmitglied Putin also jederzeit feuern?

Im Prinzip ja. Das ist Putins Problem. Er wird wohl einen Weg finden müssen, um sich abzusichern. Eines ist dabei wichtig zu betonen: Der Unterschied zwischen geschriebener Verfassung und Realverfassung ist in Russland sehr groß. So gilt etwa die Präsidialadministration, die in der Verfassung nur ein einziges Mal erwähnt wird, als mächtigste Struktur im Staat. Es handelt sich da um eine Art Schattenkabinett des Präsidenten, in dem die Kompetenzen der Regierung gedoppelt werden, wo Gesetze de facto ausgearbeitet und weitergeleitet werden. Formell ist dieses Machtzentrum unwichtig, informell aber ein Entscheidungszentrum. Auch der formell noch recht machtlose Staatsrat hätte das Potenzial, zu einem mächtigen Gremium aufzusteigen. Freilich würden sich da auch Probleme auftun.

Welche?

Zum einen wird sich die Präsidialadministration dagegen wehren, einen Teil ihrer informellen Macht abzugeben. Es könnte da zum Konkurrenzkampf um Kompetenzen kommen. Und zweitens bestimmt durch die jetzigen Neuerungen allein der Präsident die Zusammensetzung des Staatsrates. Wenn der Präsident das möchte, wird der Staatsrat eine mächtige informelle Organisation. Wenn nicht, dann nicht. Im Übrigen soll der Präsident selbst als Vorsitzender des Staatsrates amtieren. Wenn also Putins Nachfolger 2024 seinen Vorgänger als Sekretär des Staatsrates einsetzt, kann er ihn im Prinzip auch jederzeit entlassen.

Ob das realistisch ist, ist wohl eine andere Frage. Putins Macht ist ja auch informell sehr groß.

Das stimmt. Es könnten sich also zwei Machtzentren im Staate entwickeln, Putin und sein Nachfolger. Was Putin wohl am ehesten vorschwebt, ist nicht ein einzelner Nachfolger, sondern eine ganze Nachfolgegeneration, wobei Putin noch eine gewisse Zeit eine politische Rolle spielen soll. Die Amtsübergabe wird aber nicht leicht: Das gegenwärtige russische Politsystem ist ganz auf Putin ausgerichtet. Wenn er sich komplett zurückzieht, droht Gefahr, dass das System aus der Balance gerät.

Weil es so personalisiert ist?

Ja. Wobei Putin kein Diktator ist, der in allen Bereichen allein die Entscheidungen trifft. Er ist vielmehr ein Schiedsrichter zwischen unterschiedlichen Elitengruppen, die mit- und gegeneinander um den Zugang zu Ressourcen, um Macht und Geld kämpfen. Die Aufgabe Putins ist es dabei, für Interessensausgleich zu sorgen. Der russische Politologe Jewgeni Mintschenko spricht vom sogenannten Politbüro 2.0, von Personen, die Putin nahestehen, aus unterschiedlichen Regionen kommen, unterschiedlichen Alters sind und durch die Person Putin zusammengehalten werden. Jede dieser Personen hat wieder eine eigene Gruppe rund um sich. Dieses System des Politbüros 2.0 kann man sich wie ein System von konzentrischen Kreisen vorstellen. Im Zentrum steht Putin als Dreh- und Angelpunkt. Rund um ihn bewegen sich seine engsten Vertrauten, dann deren Vertraute aus unterschiedlichen Elitengruppen und so weiter. Putin muss hier als Schiedsrichter für Ausgleich sorgen.

Wird dieses personalisierte System auch unter seinem Nachfolger bestehen bleiben?

Möglich. Der Leiter des Moskauer Carnegie-Centers, der Politologe Dmitri Trenin, ist hier aber anderer Ansicht. Er sagt, Putin möchte das gegenwärtige System in Russland in Richtung eines modernen Staates umwandeln - um das Land überlebensfähig und stabil zu halten. Möglicherweise nimmt sich Putin ja auch den Ex-Premier von Singapur, Lee Kuan Yew, zum Vorbild oder den chinesischen Reformer Deng Xiaoping - oder, um in Europa zu bleiben, den spanischen Diktator Francisco Franco, der den autoritären Staat, den er selbst geschaffen hatte, am Ende schrittweise in Richtung einer parlamentarischen Demokratie führte. Ob das so ist, wissen wir freilich nicht. Manche sind auch der Ansicht, dass die jetzigen Schritte nur der Absicherung von Putins Macht dienen.

Alexander Dubowy wird am 11. Februar um 18.30 Uhr im Institut für Internationale Politik (IIP) am Wiener Möllwaldplatz 5 an einer Podiumsdiskussion über Russland teilnehmen.