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Bloß nicht zu früh in Quarantäne?

Von Petra Tempfer

Politik

Die Briten gehen einen anderen Weg: So viele wie möglich sollen am Coronavirus erkranken, um eine Immunität aufzubauen - wie lange diese anhält, ist allerdings ungewiss.


Die Schulen haben fast alle geöffnet, Theateraufführungen finden wie gewohnt statt und Großveranstaltungen wurden kaum abgesagt: Das Leben in Großbritannien geht auch mit Beginn dieser Woche nahezu ohne Einschränkungen weiter wie bisher. Es ist fast so, als hätte es den Erstnachweis des Coronavirus Sars-CoV-2 im Dezember 2019 in China gar nicht gegeben - und die darauffolgende, rasante Ausbreitung der Lungenerkrankung Covid-19 auf die gesamte Welt, die dazu führte, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO das Virus als Pandemie einstufte.

Eine Insel der Seligen ist allerdings auch Großbritannien nicht. Am Montag zählte man rund 1400 Menschen, die sich mit dem Virus infiziert hatten. Etwa 35 Infizierte sind laut Gesundheitsbehörden gestorben. Einschätzungen von Medizinern zufolge tragen bereits rund 10.000 Briten Sars-CoV-2 in sich. Fast jeder werde sich langfristig mit dem Virus anstecken, sagte der wissenschaftliche Chefberater der Regierung, Patrick Vallance, vor kurzem bei der Vorstellung eines Maßnahmenkatalogs der Regierung mit Premierminister Boris Johnson. Das sei nicht zu verhindern - und das wolle man auch nicht.

Isolation nur bei Symptomen

Denn Großbritannien wählt einen komplett anderen, gegensätzlichen Weg als die übrigen Länder Europas: Anders als zum Beispiel Österreich, wo es nun strikte Ausgangsbeschränkungen gibt, will die britische Regierung die Bevölkerung bewusst erkranken lassen, damit diese eine "Herdenimmunität" gegen das Virus aufbaue, heißt es. Infizieren sich etwa 60 Prozent der Bevölkerung, habe man diese Immunität erlangt. Denn: Das Virus könne nie ganz verschwinden. Schickt man die Menschen für einige Wochen in Quarantäne, breche das Virus danach wieder aus.

Nur wer Symptome entwickelt, wird aufgefordert, sich eine Woche lang in häusliche Isolation zu begeben - ohne einen Arzt zu konsultieren oder den Notdienst anzurufen. Großbritannien hätte freilich mehr als viele andere Länder Europas ein massives Problem, würde man alle Infizierten behandeln: Das öffentliche Gesundheitssystem NHS ist an den Grenzen seiner Belastbarkeit angelangt. Es gibt nicht genug Betten, Personal, Test-Kits, Beatmungsgeräte. Johnson wollte laut Medienberichten vom Montag unter anderem die fachfremden Unternehmen Honda und Dyson bitten, Beatmungsgeräte zu produzieren. Die Zustände im Gesundheitsbereich waren auch Thema im Wahlkampf.

Tut man nichts gegen Sars-CoV-2, könnten sich laut Experteneinschätzung im "Guardian" vom Sonntag bis zu 80 Prozent der Briten in den kommenden zwölf Monaten damit infizieren und zwischen 300.000 und 530.000 Menschen, vor allem chronisch Kranke und Ältere, daran sterben. Daneben hat Großbritanniens Vorgehensweise einen grundsätzlichen Haken: Niemand weiß im Moment, wie lange Coronapatienten nach einer Infektion immun sind.

"Das Virus ist zu neu"

"Das Virus ist zu neu, um das mit 100-prozentiger Sicherheit vorhersagen zu können", sagt Monika Redlberger-Fritz vom Zentrum für Virologie an der Medizinischen Universität Wien im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Antikörper werden mit Sicherheit vor Neuinfektionen schützen - von Coronaviren wie 229E oder NL63 wissen wir aber, dass man sich nach ein, zwei Jahren wieder damit anstecken kann." Danach gebe es keine schützende Immunität mehr. Chinesische Mediziner aus Wuhan haben zudem im Fachjournal "Jama" über mehrere Fälle von Covid-19-Patienten berichtet, bei denen nach der Genesung wieder Coronaviren festgestellt wurden.

Tatsache ist jedenfalls, dass Covid-19 laut WHO mit einer geschätzten Sterberate zwischen 0,5 und 0,7 Prozent etwa zehnmal gefährlicher als die normale saisonale Grippe ist. Und laut Simulationsrechnungen der Technischen Universität Wien und des als TU-Spin-off gegründeten Modellierungs- und Simulations-Unternehmens dwh zeigt die Reduktion sozialer Kontakte massive Wirkung auf die Verbreitung des Coronavirus: Auf Österreich bezogen kommen die Mathematiker in einem "Worst-Case-Szenario" auf rund zwei Millionen gleichzeitig Infizierte Ende Mai. Werden die Kontakte um ein Viertel eingeschränkt, sinkt die Zahl demnach auf rund 360.000.

Die Briten selbst nehmen die Maßnahmen respektive Nicht-Maßnahmen ihrer Regierung offenbar nicht geschlossen kritiklos hin und verordnen sich mitunter selbst Quarantäne. Zahlreiche Eltern schickten ihre Kinder am Montag nicht zur Schule, wie mehrere befragte Lehrer berichteten. Auf Twitter hatten Hashtags wie #Covid19Walkout Konjunktur, die zum Boykott des Schulbesuchs aufriefen. Eine Petition für Schulschließungen auf der Internetseite des Parlamentes erhielt fast 600.000 Unterschriften.

Ein Sprecher Johnsons verteidigte die Entscheidung. Das britische Krisenkabinett wollte jedoch weiter beraten, hieß es, und stufenweise auch härtere Maßnahmen verkünden. Es werde zum Beispiel diskutiert, wie man Abstände zwischen den Menschen wahren könne, um Ältere und andere besonders Gefährdete zu schützen.