Die kritischen Stimmen aus der Politik an Ungarns Regierung reißen nicht ab. Zuletzt meldete sich die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourova, zu Wort: "Ganz Europa schaut darauf, was in Ungarn geschieht." Aufseiten der Regierung in Budapest ist Justizministerin Judit Varga im Dauereinsatz, um die Maßnahmen zu verteidigen. Doch wie wird das Corona-Ermächtigungsgesetz, mit dem sich das von der Regierungspartei Fidesz dominierte Parlament in der vergangenen Woche zugunsten der Regierung von Premier Viktor Orbán selbst entmachtet hat, juristisch beurteilt? Einer der profundesten Kenner der Materie analysiert die Rechtslage: Herbert Küpper, Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München und wissenschaftlicher Referent für ungarisches Recht.

Jurist Herbert Küpper sieht "keine Rechtsgrundlage" für die Aufschiebung der ungarischen Parlamentswahl 2022. - © privat
Jurist Herbert Küpper sieht "keine Rechtsgrundlage" für die Aufschiebung der ungarischen Parlamentswahl 2022. - © privat

Aufsehen erregt nicht nur, dass die Regierung als Gesetzgeber an die Stelle des Parlaments getreten ist. Sie kann sich dabei in ihren Verordnungen auch über bestehende Gesetze hinwegsetzen - und zwar so lange die sogenannte Gefahrenlage anhält. Wie lange diese andauert, liegt einzig im Ermessen der Regierung. Eine Befristung fehlt. Das haben selbst die ÖVP-Mitglieder der Bundesregierung kritisiert, die ansonsten betont zurückhaltend auf das Ermächtigungsgesetz reagiert haben und stattdessen auf "bilateralen Dialog" mit Budapest setzen. Auch Herbert Küpper hält die zeitliche Offenheit für "bedenklich" - allerdings sei sie "verfassungsrechtlich verankert".

Nur die Regierung kann die Gefahrenlage aufheben

Diese Bedenken relativiert Ungarns Regierung: Das Parlament könne bereits vor Ende der Gefahrenlage die Ermächtigung wieder zurückzuziehen. Theoretisch ja, in der Praxis aber ist Viktor Orbán nicht nur Langzeit-Parteichef von Fidesz, sondern steht seit fast einer Dekade unumstritten an der Regierungsspitze. In dieser Zeit sind die Parlamentarier nicht mit selbstbewusstem Auftreten gegenüber Orbán aufgefallen. Küpper sieht die potenzielle Rücknahme der Ermächtigung durch das Parlament von "eher symbolischer Natur". Zwar sei nicht eine Zweitdrittelmehrheit - über die Fidesz und ihr Partner KDNP im Parlament aber ohnehin verfügen - notwendig, sondern eine einfache Mehrheit. Der Honorarprofessor an der Budapester Andrássy Universität erwartet aber nicht, dass "die Parlamentsmehrheit ihre eigene Regierung derart brüskiert".

Falls doch, treten die in der Gefahrenlage getroffenen Regierungsverordnungen außer Kraft. Allerdings bleibt die Gefahrenlage selbst aufrecht. Nur die Regierung kann diese aufheben. Es gebe auch kein verfassungsrechtliches Verfahren, mit dem die Regierung zur Beendigung der Gefahrenlage gezwungen werden könne, stellt Küpper klar - selbst wenn die Pandemie zu Ende ist. Bleibt die Gefahrenlage aufrecht, dürften auch die meisten Grundrechte weiter eingeschränkt oder gar ausgesetzt werden. Davon ausgenommen seien lediglich wenige Bereiche wie das Verbot der Todesstrafe, das Folterverbot und das Verbot zum Klonen.

Mit dem Corona-Ermächtigungsgesetz gingen auch zwei Änderungen im Strafgesetzbuch einher. Während die Sanktionen für Quarantänebrecher international mit Gleichmut aufgenommen wurden, sorgte die zweite Regelung für einen Aufschrei in der Medienbranche. Bis zu fünf Jahre Haft drohen, wer "eine unwahre Tatsache oder eine wahre Tatsache so entstellt" verbreitet, "die geeignet ist, den Erfolg einer Schutzmaßnahme (der Regierung, Anm.) zu behindern oder zu vereiteln". Dabei produzieren selbst Wissenschafter bei der Erforschung des Virus laufend neue Erkenntnisse, die bisher "wahre Tatsachen" obsolet machen.

Ideologisch aufgeladene Verfassung

Kritiker sehen daher in dem neuen Gesetz den Versuch, die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien in Ungarn weiter zu gängeln. "Ich mache weiter wie bisher", sagt ein Journalist, der anonym bleiben möchte, zur "Wiener Zeitung". Dass Journalisten tatsächlich angeklagt werden, scheint unrealistisch, weil das zu weiterer internationaler Aufmerksamkeit führen würde - wie die plötzliche Schließung der regierungskritischen Zeitung "Népszabadság" 2016. Stattdessen scheint die Regierung mit der hohen Strafandrohung auf die leise Variante der Selbstzensur zu hoffen. Juristisch bewege sie sich mit dem Paragrafen in einer "Grauzone", meint Herbert Küpper. Diese wäre vermeidbar gewesen, wenn nur die Verbreitung "erwiesen unwahrer" Tatsachen verboten worden wäre. "Damit ist klar, dass in Situationen, wo die Wahrheit erst noch gefunden werden muss, eine freie Diskussion möglich ist und bleibt."

In einem anderen Punkt nimmt der Rechtsexperte die Regierung in Schutz: Er sieht "keine Rechtsgrundlage" für die Aufschiebung der Parlamentswahl 2022. Denn der Wahltermin sei in der Verfassung vorgeschrieben, und darüber dürften sich Regierung und Parlament auch in der Gefahrenlage nicht hinwegsetzen.

Bleibt die prinzipielle Frage, warum entmachtet sich das Parlament überhaupt? Schließlich hat es seine Leistungsfähigkeit gezeigt, als es innerhalb eines Tages das Corona-Ermächtigungsgesetz abwickelte. "Schneller kann auch die Regierung nicht arbeiten", befindet Herbert Küpper. Er verweist auf die Verfassung als Hauptgrund: Dort sei die Selbstentmachtung bei einer Gefahrenlage die "vorgesehene Konstellation" - jedoch "nicht zwingend".

Die Verfassung, das sogenannte Grundgesetz, wurde unter Orbáns Regierung und ausgestattet mit der Fidesz-Zweidrittelmehrheit im Parlament völlig umgestaltet. Das "wesentliche rechtsstaatliche Manko" des Grundgesetzes sei dessen "ideologische Aufladung", urteilt Küpper. In Europa üblich seien hingegen Verfassungen, die ideologisch neutrale Spielregeln für das politische Geschehen aufstellen. Orbáns "Wille zum Machterhalt mit allen Mitteln" zeige sich für Küpper auch im Parlamentswahlrecht. Die Wahlkreise wurden neu definiert und so zugeschnitten, dass Fidesz "maximal begünstigt" wird. Dank der Verzerrung des Wahlrechts erreichte die Partei bei der bisher letzten Parlamentswahl 2018 mit 49 Prozent der Stimmen mehr als zwei Drittel der Mandate.

In Kontrolleinrichtungen sitzen Parteisoldaten

Damit ist auch die Gewaltenteilung zwischen Exekutive (Regierung) und Legislative (Parlament) suspendiert. Denn Oppositionsrechte im Parlament setzen oft ein Drittel der Stimmen voraus. Und Posten in anderen kontrollierenden Instanzen - vom Verfassungsgericht über die Nationalbank bis zum Rechnungshof - sind unter Orbán mit Parteisoldaten besetzt worden. "Diese Staatsorgane sind heute keine Kontrolleinrichtungen mehr, sondern nicken nur Fidesz-Beschlüsse ab wie das Verfassungsgericht oder sind sogar integraler Teil der Machtarchitektur, wie die Nationalbank", analysiert Küpper.

Das Corona-Ermächtigungsgesetz sei daher nicht "das Ende der Demokratie", wohl aber führe es zu "Einbußen an demokratischer Substanz". Demokratisch bedenklicher ist für den Juristen, dass das System der Gewaltenteilung angesichts der Zweidrittelmehrheit der Regierung nicht mehr funktioniert - auch nicht zu normalen Zeiten.