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Neue Nachricht: Sie sind infiziert

Von Siobhán Geets

Politik

Sollen die Ausgangsbeschränkungen fallen, braucht es andere Werkzeuge zur Eindämmung des Coronavirus. Experten und Politiker sprechen sich für eine europaweite App aus. Kann das funktionieren?


Im Sommer 2020 ist fast alles wieder beim Alten. In den heißen Monaten des Jahres tummeln sich die Menschen auf den Straßen, Gastgärten und Freibäder sind voll, der Heimattourismus blüht. Auch die Grenzen sind wieder offen. Nur eines hat sich verändert: Die meisten Smartphone-Besitzer haben eine neue App auf ihrem Handy. Falls sie sich in der Nähe eines mit dem Coronavirus Infizierten aufgehalten haben, werden sie gewarnt - und müssen in Quarantäne.

Dieses Szenario schwebt Politikern und Experten derzeit vor: Sollen die Ausgangsbeschränkungen gelockert werden, braucht es ein anderes Werkzeug, um die Infektionskette zu unterbrechen: Die Smartphone-App "Pan European Privacy Protecting Proximity Tracing" (PEPP-PT) soll in wenigen Tagen fertig sein. Rund 130 Experten aus acht europäischen Ländern, darunter auch Österreich, haben am Projekt PEPP-PT gearbeitet.

Die Technologie funktioniert über Bluetooth. Standortdaten, Bewegungsprofile und Kontaktinformationen werden nicht gespeichert. Die App generiert zufällig gewählte temporäre ID-Nummern für jedes Smartphone in der Nähe. Wird ein Nutzer positiv auf das Coronavirus getestet, gibt er diese Information in die App ein. Wer sich in der Inkubationszeit von 14 Tagen für mindestens 15 Minuten näher als zwei Meter am Infizierten aufgehalten hat, bekommt eine Nachricht - und kann sich beim Gesundheitsamt melden und testen lassen. Nicht gewertet wird also, wer schlicht aneinander vorbeigeht, wohl aber, wer eine halbe Stunde in der U-Bahn nebeneinander sitzt.

Keine "Big-Brother-Methoden autoritärer Staaten"

Der Vorteil: Die App informiert Menschen rasch und anonym, wenn sie Kontakt zu Infizierten hatten. Derzeit geben die Gesundheitsämter diese Informationen weiter - mittels langwierigen Herumtelefonierens.

Auch in Österreich ist eine Tracking-App im Gespräch. Der Wunsch des ÖVP-Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka, die Caritas-App "Stopp Corona" verpflichtend auszugeben, scheiterte, zumindest vorerst. Laut dem Gallup Institut lehnten 72 Prozent der Befragten eine verpflichtende App ab. Auf freiwilliger Basis können sich das drei Viertel der Österreicher vorstellen.

Entscheidend ist die Freiwilligkeit, heißt es auch vonseiten der Politik. Die Corona-App soll ein wichtiger Teil der Exit-Strategie sein. Man müsse nicht die "Big-Brother-Methoden autoritärer Staaten kopieren", sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas Anfang der Woche. Es solle "keinen Flickenteppich aus 27 Corona-Apps und 27 Datenschutzregimes" geben, sondern eine einheitliche Corona-App in der EU: "Damit leisten wir einen Beitrag, Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen in der EU schnell und dauerhaft wieder abzubauen."

Daten spenden für den guten Zweck?

Auch Experten wie der deutsche Virologe Christian Drosten sprechen sich für die App aus. Mehr und gezielter testen, Masken tragen und Daten nutzen - "diese drei Maßnahmen sind wesentlich, wenn wir die Kurve flach halten und gleichzeitig aus dem Lockdown wollen", so Drosten. Der Charité-Virologe weist darauf hin, dass sich die rasche Übertragung kaum über Gespräche nachverfolgen lässt. Schließlich können Infizierte ansteckend sein, bevor sie überhaupt Symptome haben. Laut Studien geschehen 46 Prozent der Ansteckungen auf diese Weise.

Nun gelte es, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, bei der App mitzumachen. Rund 60 Prozent der Bevölkerung müsste sie installieren, damit sie ideal funktioniert - also ein Großteil der Smartphone-Nutzer.

Doch viele Menschen wollen ihre Daten nicht preisgeben. Das sei "Big Brother", die totale Überwachung, heißt es da, man sei ja nicht in Südkorea. Nur: Dort werden Kontaktdaten mit zahlreichen anderen kombiniert, darunter Bewegungsprofile und flächendeckende Gesichtserkennung. Von einer solchen Totalüberwachung ist PEPP-PT weit entfernt. Die App setzt auf Freiwilligkeit und sogenannte Pseudonymisierung, also die Anonymisierung der Nutzer. Bedenken gibt es dennoch. "Im schlimmsten Fall könnten die Betreiber herausfinden, wer infiziert ist", sagt Rainer Rehak vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF). Außerdem könnten die Kontaktdaten später zweckentfremdet und etwa für die Strafverfolgung genutzt werden.

"Aktionistischer Blödsinn"

Der Physiker Dirk Brockmann, der für epidemiologische Modellrechnungen am Robert Koch-Institut in Berlin zuständig ist, spricht von einem Gemeinschaftsprojekt: "Das ist nicht Überwachung, sondern ein partizipatorisches Element." Auch der österreichische Datenschützer Max Schrems hat kein Problem mit der App. "Wenn uns dieser minimalinvasive Eingriff erlaubt, wieder fröhlich vor die Tür zu gehen, bin ich pro App", sagte er zum Nachrichtenmagazin "profil".

Der Informationsanalytiker Hans Zeger wird die App trotzdem nicht installieren. Nicht, weil er datenschutzrechtliche Bedenken hat, sondern, weil er überzeugt ist, dass sie nicht funktioniert. "Smartphones haben keine Techniken, um Abstände zu messen", sagt Zeger. GPS wäre dafür grundsätzlich geeignet, doch das funktioniere nicht in geschlossenen Räumen. "Und Bluetooth hat überhaupt keinen Entfernungsmesser." Zwar könne man im Labor an der Signalstärke ableiten, wie weit das andere Gerät entfernt ist. "Aber draußen am Feld gibt es zu viele Störeinflüsse: Der Ladezustand des Geräts, sonstige Apps, die im Hintergrund laufen - all das führt dazu, dass das Bluetooth-Signal schwankt." Der Obmann der ARGE-Daten bezeichnet das Projekt als "Laborratte", als "aktionistischen Blödsinn." Zwar sei es theoretisch möglich, Handys zur Entfernungsortung zu nutzen, doch bräuchte es dafür eine eigene Ausstattung, etwa ein Radarsystem wie im Flugverkehr.

"Tatsächlich ist die Entfernungsmessung anhand der Stärke eines Bluetooth-Signals nicht einfach", sagt Bernhard Nessler von der Johannes Kepler Universität Linz, die am Projekt PEPP-PT beteiligt ist. Eine Schätzung sei aber möglich: Zwischen ansteckungsgefährlicher Nähe und ungefährlichem Abstand könne durchaus unterschieden werden - das hätten Testmessungen indoor wie outdoor bestätigt.

Google und Applearbeiten zusammen

Vor kurzem kündigten Google und Apple an, im Kampf gegen das Coronavirus zusammenzuarbeiten. Die Tech-Giganten statten mehr als 90 Prozent der Smartphones mit ihren Betriebssystemen aus - und wollen die neue Technologie dort integrieren. "Das hat Hand und Fuß", sagt Zeger, "Wenn die eine Radarfunktion in die Handys einbauen, dann kann man die Entfernung millimetergenau messen."

Mit der App könnte es bald zwei Gruppen von Menschen geben: Jene, die sich wieder frei bewegen können und die Virenverdächtigen. "Habe ich die App, dann muss ich mit Einschränkungen rechnen, die ich selbst verschuldet habe, weil ich ein nicht funktionierendes System installiert habe", sagt Zeger. Die Corona-App wird dennoch kommen. Bereits nächste Woche soll PEPP-PT vorgestellt werden. Experten wollen den Nutzern nun die Angst nehmen: Die Bürger werden dazu aufrufen, den Wissenschaftlern zu helfen, damit die Wirtschaft wieder anziehen kann.

Doch was, wenn nicht genug Menschen mitmachen? Steigen die Zahlen der Infizierten erneut an, könnte die Debatte über eine verpflichtende App schnell wieder hochkochen.