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Boris Johnson: Erkrankt, genesen, geläutert?

Von Siobhán Geets

Politik

Der britische Premier Johnson ist zurück - und warnt vor einer Lockerung der Corona-Maßnahmen. Die Krise könnte zu einem Einlenken seiner Regierung bei den Brexit-Verhandlungen mit Brüssel führen.


Mehr als drei Wochen war Boris Johnson von der Bildfläche verschwunden. Wegen seiner Erkrankung an Covid-19 hatte sich der britische Premier zuerst in seine Wohnung in der Downing Street zurückgezogen, wenig später wurde er ins Krankenhaus eingeliefert und verbrachte sogar einige Tage auf der Intensivstation. Am Montag nahm der 55-Jährige die Amtsgeschäfte wieder auf - und erteilte einer vorzeitigen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen in seinem Land gleich eine Absage. "Ich verstehe eure Ungeduld", sagte der Premier, doch müsse eine "neue Todeswelle" verhindert werden.

Im Kampf gegen das Coronavirus steht Johnson nun vor schwierigen Aufgaben. Unternehmen und Konservative aus seiner eigenen Tory-Partei machen zunehmend Druck, die Ausgangsbeschränkungen zu lockern: Seit 23. März dürfen die Briten ihre Wohnungen nur noch verlassen, um lebenswichtige Besorgungen zu machen. Gelten sollen die Maßnahmen bis mindestens 7. Mai. Damit die Zahlen nicht wieder steigen, müssen die Eindämmungsmaßnahmen laut Experten fortgeführt werden.

Zwar sind die Zahlen der Toten und der Neuerkrankungen zuletzt etwas gefallen, doch sind immer noch mehr als 150.000 Menschen mit dem neuartigen Virus infiziert. Laut offiziellen Statistiken starben bereits mehr als 20.000 Menschen an den Folgen ihrer Corona-Infektion. Die tatsächliche Zahl dürfte allerdings deutlich höher liegen, weil etwa Todesopfer in Pflegeheimen nicht mitgezählt wurden.

Großbritannien hat nach Spanien die meisten Corona-Toten zu vermelden. Die britische Regierung hatte sich anfangs gegen härtere Maßnahmen gesträubt - und im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus wertvolle Zeit verloren. Hinzu kommt, dass das staatliche Gesundheitssystem NHS nach zehn Jahren der Austeritätspolitik kaputtgespart ist. Nicht einmal für das Gesundheitspersonal stehen ausreichend Schutzmasken zur Verfügung, es mangelt an Tests, Beatmungsgeräten und - auch wegen des Brexit - an Klinikpersonal. Experten fürchten, dass Großbritannien das am schlimmsten von der Pandemie betroffene europäische Land mit Blick auf die Todesquote werden könnte.

Brexit im Schatten der Corona-Krise

Weil Großbritannien besonders hart betroffen ist, sind alle anderen Themen in den Hintergrund gerückt. So stehen auch die Verhandlungen mit der EU nach dem Brexit im Schatten der Corona-Krise. Zwar gab es vergangene Woche eine weitere Verhandlungsrunde über die künftigen Beziehungen, Ergebnisse brachte diese jedoch keine. Das liegt wohl auch daran, dass es London an Ressourcen mangelt: Ein Großteil der Beamten, die sich mit dem anstehenden Handelsabkommen mit Brüssel befasst hatten, wurden für den Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus abgezogen.

Von der Agenda verschwunden ist der Brexit aber keinesfalls: Bis Ende des Jahres muss ein Abkommen vereinbart sein, denn dann endet die Übergangsphase, in der das Vereinigte Königreich zwar nicht mehr EU-Mitglied ist, in der aber vorerst alles bleibt, wie es ist. Bisher hatte sich London geweigert, diesen Zeitraum zu verlängern, doch das könnte sich nun ändern. "Die Regierung wird einer Verlängerung schlussendlich zustimmen", sagte Eunice Goes von der Richmond University in London am Montag bei einer vom "Forum Journalismus und Medien" (FJUM) organisierten Videokonferenz über den Brexit. Die vergangenen zehn Jahre der Sparpolitik hätten den Staat unfähig gemacht, auf die Krise zu reagieren. Es seien bereits osteuropäische Arbeiter für Dienste in Pflegeheimen und als Erntehelfer eingeflogen worden. "Wäre der Brexit wirklich komplett vollzogen, wäre das viel schwieriger gewesen", sagt die Politologin.

Diese Krise, so Goes‘ Überzeugung, führe zu einem Umdenken der Regierung. Sie sehe nun ein, dass der Zugang zum Binnenmarkt doch Vorteile bringt: "Ein No-Deal-Brexit sieht nicht mehr so rosig aus".

Weil die Realität in diesen Krisenzeiten nicht mit den Überzeugungen der Brexiteers, ohne die EU besser dazustehen, zusammenpasst, könne es sein, dass Johnson nun mehr auf die Pragmatiker in seiner Partei hört. Goes: "Sie werden einer Verlängerung zustimmen, alles andere wäre eine Katastrophe."

Covid-19 schafft politischen Konsens

"Covid-19 hat einen undenkbaren politischen Konsens geschaffen", sagt auch Luke Cooper von der London School of Economics. Der Politikwissenschaftler glaubt, dass London der EU in einem Handelsabkommen durchaus entgegenkommen könnte. Nur: Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit werde die britische Regierung hart bleiben. Sie soll fallen, immerhin war das Thema Einwanderung schon beim Brexit-Referendum von 2016 ausschlaggebend.

Cooper glaubt ebenfalls an eine Verlängerung der Übergangsphase, mittlerweile spreche sich auch eine Mehrheit der Bevölkerung dafür aus. "Tarife und Zölle sind für beide Seiten schlecht, in Zeiten von Corona gilt das umso mehr." Die Krise könnte der Regierung in London zudem eine Begründung liefern, wieso die Übergangsphase doch verlängert werden soll.

"Wenn London die meisten EU-Forderungen akzeptiert und nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit fällt, dann könnte es einen raschen Deal geben", so Cooper. Viel Zeit bleibt der Regierung in London allerdings nicht. Will sie um eine Verlängerung der Übergangsfrist ansuchen, muss sie Brüssel dies bis Anfang Juli mitteilen.