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Die Geschichte raucht noch

Von Gerhard Lechner

Politik

Eigentlich sollte Europa gemeinsam und geeint der Niederlage Nazideutschlands vor 75 Jahren im Zweiten Weltkrieg gedenken. Doch je weiter das Geschehen wegrückt, umso emotionaler werden die Debatten geführt.


Es ist, wie es scheint, tatsächlich eine "Vergangenheit, die nicht vergehen will." So bezeichnete der konservative deutsche Historiker Ernst Nolte Mitte der 1980er Jahre jene an sich kurzen zwölf Jahre des Nationalsozialismus, die es gleichwohl vermochten, das alte Europa in einen Strudel der Vernichtung zu reißen. Nolte löste damit und mit seiner Behauptung, der Nationalsozialismus sei nur als Reaktion auf den Sowjetkommunismus und dessen Verbrechen zu verstehen, einen handfesten Historikerstreit aus.

Es war nicht die letzte Debatte um die Einordnung der NS-Verbrechen. Auch heute, 75 Jahre nach Unterzeichnung der deutschen Kapitulation, die den Zweiten Weltkrieg in Europa beendete, gehen dann, wenn es um die Erinnerung an diese traumatischen Jahre geht, immer noch die Wogen hoch. Von einer "Historisierung" dieser Zeit, von einer gemeinsamen Einigung auf gesichertes Geschichtswissen, kann auf dem europäischen Kontinent keine Rede sein. Die Geschichte raucht noch.

Das zeigt etwa das, was sich kürzlich in Tschechien ereignet hat. Ganze 40 Jahre stand da eine Statue auf dem Prager Platz der Internationalen Brigaden. Überlebensgroß und in Bronze gegossen blickte Sowjetmarschall Iwan Konjew auf Prag. Auf die Stadt, die er einst im Mai 1945 von den deutschen Truppen befreit hatte. Die Prager Bevölkerung hatte den Einmarsch der Truppen der Roten Armee damals enthusiastisch bejubelt. Ein Monument der Befreiung der Stadt hätte es für seine kommunistischen Errichter im Jahr 1980 sein sollen, ein antifaschistischer Gedächtnisort für die Ewigkeit.

Denkmal für Kollaborateur

Doch die Ewigkeit währte nur vierzig Jahre. Anfang April wurde die Statue, die den grüßenden Marschall in Stiefeln, Uniform, Mütze und - anlässlich der Befreiung - mit einem Blumenstrauß zeigt, abmontiert, verpackt und mit dem Lastwagen in ein Museum transportiert. Ein anderes Denkmal zur Befreiung Prags soll an Konjews Stelle treten. Der Grund: Der Marschall hatte beim Aufbau der kommunistischen Diktatur in der damaligen Tschechoslowakei ebenso eine Rolle gespielt wie bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Und die Erinnerung an die bleiernen Jahre des Kommunismus ist nicht nur in traditionell russlandkritischen Staaten wie Polen, sondern auch im früher lange Zeit russophilen Tschechien noch sehr präsent.

Das Denkmal wurde in den letzten Jahren immer wieder mit Farbe beschmiert, seit 2018 gab es eine Plakette mit kritischen Anmerkungen. Einen Befreier sehen viele Tschechen in dem sowjetischen Feldherrn nicht mehr. Schließlich hatten sich die Prager bereits vor dessen Ankunft in der Stadt selbst von den Deutschen befreit - übrigens mithilfe der "Russischen Befreiungsarmee" von Andrej Wlassow. Der war einst sowjetischer General, lief in der Gefangenschaft zur Gegenseite über und kämpfte dann an der Seite der Deutschen gegen die Sowjettruppen.

Für Russland ist Wlassow ein Verräter, der in einem fürchterlichen Existenzkampf um Sein oder Nichtsein des Volkes, dem "Großen Vaterländischen Krieg", mit dem völkermörderischen deutschen Feind kollaborierte. Und ausgerechnet für diesen Wlassow wurde in Prag vor einigen Tagen, am 2. Mai, an einem anderen Ort eine Gedenktafel errichtet.

 

Russisches "Versailles-Trauma"

Für Moskau muss all das wie eine Provokation wirken, wie ein Wiederaufleben des "Faschismus", wie der Nationalsozialismus von der kommunistischen Sowjetunion konsequent genannt wurde. Und das ausgerechnet in jenen Gebieten Europas, die man einst befreit hatte. Für die meisten Russen, nicht nur für die Führung im Kreml, kommt eine Relativierung der Taten der sowjetischen Befreier einem Sakrileg gleich.

Der 9. Mai, der "Tag des Sieges", bedeutet vielen Russen laut Umfragen mehr als der eigene Geburtstag. An diesem Tag hatte man nach einem vierjährigen mörderischen Kampf die Bestie besiegt, die vorher einen rassenideologischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geführt hatte mit dem Ziel der Versklavung, Ausrottung und Vertreibung weiter Teile des russischen Volkes. 27 Millionen Sowjetbürger hatten laut Schätzungen in diesem fast vierjährigen brutalen Kampf ihr Leben verloren.

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Gerade nach dem Fall der Sowjetunion und dem Verlust des Weltmachtstatus, der Russland eine Art Versailles-Trauma bescherte, stieg die Bedeutung der Erinnerung an den den Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" noch. Der Umstand, dass die Zeitzeugen jener Jahre vor dem Tod stehen, spielt dabei auch eine Rolle. Dass man damals auf der richtigen Seite stand und den europäischen Völkern die Freiheit brachte, ja ihr Leben rettete, gilt jedenfalls als weitgehend unstrittig.

 

Verwandte Totalitarismen

Zumindest in Russland. Denn weiter westlich sieht man die Sache anders. Besonders in Polen, wo mit der nationalkonservativen PiS eine geschichtsverliebte Partei die Regierung stellt. Dort weist man immer wieder auf die Komplizenschaft der stalinistischen Sowjetunion mit dem Hitlerregime zwischen 1939 und 1941 hin - auf die in Russland gerne ausgeblendete Zeit vor dem "Großen Vaterländischen Krieg". Darauf, dass die UdSSR ebenfalls in Polen eingefallen war. Und auf die darauffolgenden Deportationen vieler Polen nach Sibirien und die Ermordung zehntausender polnischer Offiziere in Katyn und an anderen Orten. Auf den Umstand, dass die Rote Armee den polnischen Aufständischen in Warschau 1944 nicht zu Hilfe kam, sondern wartete, bis der lästige bürgerliche Widerstand von der Waffen-SS niedergekämpft war. Und auf die lange Zeit der Repression unter dem Sowjetregime samt den damit einhergehenden Denkverboten.

Für die meisten Polen - und für viele andere Bürger im ehemals kommunistischen Ostmitteleuropa - handelte es sich beim Nationalsozialismus und Kommunismus um zwei verwandte totalitäre Systeme. Eine Sichtweise, die im Westen lange verpönt war. Spätestens mit der Osterweiterung der EU hat die Perspektive der neuen Mitgliedstaaten aber auch hier Einzug gehalten. Historiker wie der Pole Bogdan Musial relativierten den sowjetischen Mythos vom heldenhaften Partisanenkrieg, der Amerikaner Timothy Snyder verglich in "Bloodlands" die Massenmorde der Nationalsozialisten mit denen der stalinistischen Sowjetunion.

 

Historische Traumata befeuern politische Konflikte

Diese historiographische Neuorientierung vollzog sich parallel zur politischen Abkühlung zwischen Moskau und dem Westen seit der Jahrtausendwende. Politische Konflikte werden durch historische Traumata mit befeuert und umgekehrt. Etwa in der Ukraine-Krise, wo die prominente Mitwirkung von Ultranationalisten an der Maidan-Bewegung und das Schweigen des Westens dazu Moskau an die ukrainischen Nazi-Kollaborateure von einst erinnerte. So erhielt etwa die ukrainische Investigativ-Journalistin Tatjana Tschornowol 2014 einen Förderpreis für Pressefreiheit in Osteuropa. Die mutige Tschornowol hatte die fragwürdige Finanzierung der Residenz von Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch aufgedeckt und wurde deshalb von dessen Schlägern brutal zugerichtet. Nach dem Sturz Janukowitschs wurde sie Regierungsbeauftragte für Fragen der Antikorruptionspolitik.

Doch Tschornowol hat auch ein anderes Gesicht: Als Jugendliche trat sie in die UNA-UNSO ein, eine rechtsextreme bis neonazistische Partei, die auch als paramilitärischer Verband tätig ist. Ihr Mann kämpfte im Donbass für das berüchtigte nationalistische Asow-Bataillon und wurde dabei getötet. Zumindest in der nationalistisch geprägten Westukraine, wo heute noch die Kämpfer der ukrainischen SS-Division Galizien geehrt werden, wird das nicht als Problem empfunden.

"Antisemitisches Schwein"

Ein paar Kilometer weiter westlich, in Polen, allerdings schon: Dort erinnert man sich noch gut an die Ermordung und Vertreibung hunderttausender Polen durch ukrainische Nationalisten während des Zweiten Weltkrieges. An anderes erinnert man sich in Polen weniger gern. Etwa an die Pogrome, die Polen lang vor dem Holocaust gegen Juden verübten. Oder an den weit verbreiteten Antisemitismus im Land, den etwa auch ein Pater Maksymilian Kolbe geschürt hatte. Kolbe, später heiliggesprochen, war anstelle eines polnischen Mithäftlings im KZ Auschwitz in den sicheren Hungertod gegangen.

Auch die Politik des offiziellen Vorkriegspolens ist nicht so unbefleckt, wie es der polnische Helden- und Opfermythos suggeriert. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte im Dezember auf derbe Art darauf hingewiesen, dass der damalige polnische Botschafter in Berlin, Jozef Lipski, ein "antisemitisches Schwein" gewesen sei. Lipski hatte dem deutschen Staatschef Adolf Hitler ein Denkmal in Warschau in Aussicht gestellt, wenn er die polnischen Juden nach Madagaskar deportieren würde. Putin machte daraus eine Mitverantwortung Polens am Zweiten Weltkrieg - und spielte damit die Rolle der Sowjetunion im Jahr 1939 herunter. In Polen war man - parteiübergreifend, was selten ist - empört.

"Verdrehung der historischen Wahrheit"

Die Zunahme der Vergangenheitsdebatten, je weiter die Zeit des Krieges wegrückt, mag auch am Ringen um Historisierung liegen - um verbindliche Erzählungen, mithin um Mythen. Und Mythen müssen, wenn sie für die Gegenwart orientierend wirken sollen, eindeutig sein. Entsprechend stark engagieren sich Staaten mittlerweile in Vergangenheitsdebatten. Dem Gegner wird stets dasselbe vorgeworfen: die Verdrehung der "historischen Wahrheit".

Doch diese Wahrheit hat in Wahrheit viele Facetten. Und dennoch: An dem Umstand, dass die Rote Armee Europa - bei allem, was sie sonst noch gebracht hat, etwa Vergewaltigungen, Morde und Verschleppungen - objektiv letztlich dennoch befreit hat, sollte kein Zweifel bestehen. Denn: Was wäre gewesen, hätte Hitlers Reich den Krieg gewonnen?