Die irische Grenze hat es mit dem Brexit zu ungewollter Bekanntheit gebracht. Bei den Verhandlungen vor dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs war die unsichtbare Linie, die das EU-Mitglied Irland von der britischen Provinz im Norden trennt, der Elefant im Raum. Der Brexit hat die Insel entzweit und Konflikte in Nordirland angeheizt. Und auch in der Corona-Krise nehmen pro-britische Unionisten und irisch-katholische Republikaner entgegengesetzte Standpunkte ein.

Grund dafür sind die völlig unterschiedlichen Positionen Londons und Dublins. Während Irlands Premier Leo Varadkar sein Land rasch in den Lockdown schickte, setzte der britische Premier Boris Johnson zunächst auf "Herdenimmunität": Wer sich krank fühlt, solle eben zu Hause bleiben, Schulen und Pubs blieben geöffnet, selbst Großveranstaltungen fanden im März noch statt. Als Varadkar ankündigte, als gelernter Arzt in Krankenhäusern aushelfen zu wollen, besuchte Johnson ein Fußballspiel mit 80.000 Teilnehmern und prahlte damit, Corona-Patienten die Hände zu schütteln. Am Ende erkrankte er selbst - und verbrachte mehrere Tage auf der Intensivstation. Mittlerweile ist Johnson zwar genesen, doch das Vereinigte Königreich leidet nach wie vor stark unter der Ausbreitung des Virus: Mit 32.000 Toten liegt das Land auf dem traurigen zweiten Platz hinter den USA.

Mehr Infizierte im Norden

Doch zurück zum Anfang: In Irland und Nordirland trat das Virus gleichzeitig auf. Ende Februar landete eine an Covid-19 erkrankte Frau auf dem Flughafen in Dublin, setzte sich in den Zug und fuhr nach Belfast. Zunächst entwickelten sich die Zahlen auf der ganzen Insel ähnlich. Doch bereits Anfang April starben in Nordirland 87,2 Menschen pro Million Einwohner an den Folgen von Covid-19, in der Republik waren es 59,4. Ein Vergleich der Zahlen ist wegen der unterschiedlichen Methoden und Statistiken zwar schwierig. Nur: In Nordirland wurde im Vergleich zu Irland wenig getestet, die Kontakte der Infizierten wurden nicht zurückverfolgt und Ausgangssperren vergleichsweise spät eingeführt. Die Folge: mehr Infizierte. Auch in der Grenzregion in der Republik gibt es überdurchschnittlich viele Corona-Fälle.

Und so eröffnet die Corona-Krise in Nordirland ein neues Schlachtfeld. Die Frontlinien zwischen den tonangebenden Traditionsparteien sind die alten: Während sich die republikanische Sinn Féin an der Republik im Süden orientiert und dieselben Maßnahmen für Nordirland forderte, lehnte die unionistische DUP jede Abweichung von der Politik in London vehement ab. "Wir sind der Regierung in London blind gefolgt", sagt Deirdre Heenan von der Ulster University in Antrim. Die Politologin ist überzeugt: Die Regionalregierung in Belfast hätte - wie auch jene in Schottland und Wales - ihre eigenen Entscheidungen treffen sollen. "Doch die DUP macht, was auch immer ,ihr Premier‘ vorgibt. Es ist eine Rhetorik wie zu Kriegszeiten."

Die Schließung der Schulen, wie von der Sinn Féin gefordert, lehnte DUP-Parteichefin Arlene Foster ab, bis London Ende März den kompletten Lockdown verkündete - und Nordirland nachzog. Doch da war es bereits zu spät: Insgesamt ist die Todesrate in Nordirland um 50 Prozent höher als jene im Süden. "Wir hätten von Anfang an als eine Insel agieren müssen", sagt Heenan.

Debatte um Wiedervereinigung

Könnte das Versagen Großbritanniens in der Corona-Krise zu einer rascheren Wiedervereinigung Irlands führen, wie es die Sinn Féin anstrebt und wie manche Kommentatoren behaupten? "Die Menschen betrachten die Frage nach der Wiedervereinigung Irlands durch die epidemiologische Brille. Das Virus ist auch in Irland längst zum Politikum geworden", schreibt etwa der britische "Guardian". Politologin Heenan findet die Debatte zum jetzigen Zeitpunkt unangebracht: "Wir sollten die politische Agenda ruhen lassen und das Beste für die Gesundheit der Bevölkerung unternehmen."

Eine Wiedervereinigung ist zwar nicht vom Tisch, eine größere Rolle wird dabei aber der Brexit spielen. Gelingt es nicht, bis Ende des Jahres ein Handelsabkommen mit der EU abzuschließen, trifft der Austritt Nordirland besonders hart. Das könnte dazu führen, dass auch viele Unionisten sich mit der Idee anfreunden.

Hinzu kommt, dass der Kult um Johnson vorbei sei, sagt Heenan. So ergebe etwa sein Gedöns um die Kontrolle der Grenzen nach dem Brexit keinen Sinn, wenn derzeit nicht einmal Tests bei Einreisenden auf den Flughäfen stattfinden. Zudem habe die Corona-Krise gezeigt, wie wichtig die Verbindungen zur EU sind. Britische Medien seien lange behutsam mit den Brexiteers umgegangen, das würde sich nun ändern. "Diese Krise hat die Unfähigkeit der Regierung offengelegt." Das führe dazu, dass auch Vergangenes infrage gestellt werde: "Das Vereinigte Königreich hat die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation ignoriert und wollte die Krise alleine bezwingen", sagt Heenan. "Das ist nach hinten losgegangen und stellt auch die Logik des Brexit infrage." Johnson und seine Leute taten, als könne sich ihr Land allein in der Welt behaupten. Doch nun sei klar: Das Königreich ist nichts Besonderes, sondern genauso exponiert wie alle anderen.