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Lukaschenkos riskantes Spiel mit Corona

Von Gerhard Lechner

Politik

Während in der EU die meisten Regierungen einen strengen Lockdown verhängt haben, lief ausgerechnet im autoritären Weißrussland das Leben weiter wie bisher. Wie sieht die Situation in dem Land nach zwei Monaten des Nichtstuns aus?


An sich ist es ja nicht so, dass Alexander Lukaschenko, von westlichen Medien gerne "letzter Diktator Europas" genannt, Probleme damit hätte, Freiheitsrechte einzuschränken. Der weißrussische Langzeit-Staatschef ist seit einem Vierteljahrhundert bekannt für seine repressive Politik. In der blitzsauberen Hauptstadt Minsk mit ihren Putzkolonnen und allgegenwärtigen Sicherheitsdiensten ist das Ordnungsverständnis des Präsidenten auch überall sichtbar. Was läge für Lukaschenko also näher, als die Corona-Krise zu nutzen, um wie gewohnt auf den Tisch zu hauen und sich - kurz vor den Präsidentenwahlen im August - als Beschützer der Nation feiern zu lassen?

Doch diesmal ist alles anders. Als in den vergangenen Monaten in fast ganz Europa das soziale Leben stillstand, geschah in Minsk nämlich - gar nichts. Während EU-Bürger von ihren Regierungen dazu angehalten wurden, die eigene Wohnung möglichst nicht zu verlassen, konnte man sich paradoxerweise ausgerechnet im autoritär regierten Belarus immer noch frei im öffentlichen Raum bewegen. Die Geschäfte, die zahlreichen Cafés und Restaurants blieben offen. Selbst die weißrussische Fußball-Liga hat - als einzige Liga Europas - den Spielbetrieb nicht eingestellt.

"Besser stehend sterben als kniend leben"

Und auch Massenveranstaltungen fanden weiter statt. Etwa am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Hitlerdeutschland. Während Russlands Präsident Wladimir Putin die alljährliche Siegesparade über den Roten Platz absagen musste, rollten durch Minsk die Panzer, marschierten die Soldaten dicht an dicht ohne Mundschutz, standen die Zuseher am Straßenrand. Zwar viel weniger als sonst - statt hunderttausender Menschen kamen diesmal offiziell nur 15.000 -, aber eben doch.

Es war der Präsident, der die eigenwillige belarussische Corona-Linie von Anfang an vorgab. Und das, wie bei Lukaschenko üblich, mit markigen Sprüchen: "Es gibt hier keine Viren! Siehst du sie herumfliegen? Ich auch nicht", sagte er lachend zu einer Reporterin und fügte hinzu: "Besser stehend sterben als knieend leben!" Die Corona-Maßnahmen, die anderswo getroffen wurden, bezeichnete er als "Psychose" und empfahl gegen das Virus Saunagänge und das tägliche Trinken von Wodka.

Aus EU-Sicht hört sich diese Politik abenteuerlich an - und tatsächlich berichten Vertreter der weißrussischen Opposition davon, dass es in Wahrheit viel mehr Corona-Fälle gebe als die etwa 25.000, die offiziell angegeben werden. Verzweifelte Ärzte, so der Regimekritiker Anatol Ljabedska, hätten Angst, wirklichkeitsnahe Informationen weiterzugeben. Sie würden um ihren Arbeitsplatz fürchten.

Belarus ist offiziell ein Corona-Musterschüler

"Die staatlichen Zahlen sind natürlich mit Vorsicht zu genießen", sagt Artjom Shreibman, Gründer des unabhängigen politischen Thinktanks "Sense Analytics" in Minsk, zur "Wiener Zeitung". "Wie viele Leute getestet wurden, weiß schließlich niemand. Es könnte fünf- bis zehnmal so viele Ansteckungen geben als offiziell zugegeben", meint der Polit-Analyst.

Besonders die niedrige offizielle Todesrate in Weißrussland überrascht: Nur etwa 150 Tote hat das Virus offiziell bisher in dem Land gefordert. "Damit wäre Belarus ein Musterschüler in Europa, die Nummer zwei nach Island", sagt Shreibman. Das sei kaum glaubhaft - zumal es Berichte gebe, wonach das Coronavirus als Todesursache oft verschwiegen werde. "Letztlich weiß niemand genau, wie sehr sich das Virus in Weißrussland ausgebreitet hat", sagt der Analyst.

Die Menschen isolieren sich

An eine verschwiegene humanitäre Katastrophe glaubt Shreibman aber nicht. Und zwar deshalb, weil Belarus nicht Nordkorea oder Turkmenistan sei. Missstände würden in dem osteuropäischen Land trotz aller Repression über unabhängige Internet-Medien sehr schnell publik. "Außerdem sind die Spitäler nicht überfüllt", stellt Shreibman fest.

Dies sei auch den Weißrussen zu verdanken. "Die Leute haben sich in den letzten Wochen selbst isoliert", analysiert der Politologe. "Sie meiden Cafés, Geschäfte und Massenveranstaltungen." Außerdem gebe es auch staatliche Maßnahmen. So sei es etwa Eltern freigestellt, ihre Kinder (auch physisch) in die Schule zu schicken. "Nur 30 Prozent der Eltern haben ihre Kinder nach den coronabedingt verlängerten Ferien wieder in die Schule geschickt", sagt Shreibman.

 

Weißrusslands Wirtschaft ist schwer getroffen

Was aber veranlasste ausgerechnet den ausgekochten Stimmungspolitiker Lukaschenko dazu, sich mit seinem ungewöhnlichen Corona-Kurs zu exponieren? Schließlich setzt er sich damit dem Risiko aus, vor der Wahl im August unpopulär zu werden. Schon im März, als das Coronavirus in Belarus noch nicht grassierte, hatten in Umfragen rund 70 Prozent der Weißrussen einschneidende Maßnahmen gegen das Virus gefordert. Selbst die Opposition, sonst eine Vorkämpferin für Versammlungsfreiheit, forderte Einschränkungen für Massenversammlungen.

Doch Lukaschenko blieb unbeirrt auf Kurs. Der Grund: die angespannte Wirtschaftslage. Weißrussland hat schlicht keine Reserven mehr, um einen monatelangen Lockdown durchzuhalten. Das verschuldete Land braucht Hilfe von außen in Form von Krediten. So erhält Minsk vom Internationalen Währungsfonds (IWF) 900 Millionen US-Dollar, die Europäische Entwicklungsbank EBRD steuert eine Milliarde Euro bei.

 

Opposition hat kein Geld

Dennoch rutscht Belarus in die Rezession - der Rückgang der Rohstoffpreise trifft das Land hart: Die Verarbeitung billigen russischen Öls in belarussischen Raffinerien und der Weiterverkauf gen Westen bildeten lange das Rückgrat der weißrussischen Wirtschaft. In der Corona-Krise ist die Nachfrage in Europa nach Treibstoff aber eingebrochen.

Für Lukaschenko ist das im Wahljahr eine schlechte Nachricht. Zwar kann sich der Langzeitpräsident auf seinen Repressionsapparat verlassen. Eine Revolution der Opposition ist schon deshalb unrealistisch. "Die wichtigsten Oppositionsparteien haben auch gar kein Geld und zu wenig Leute für eine erfolgversprechende Kampagne", führt Shreibman aus.

Nomenklatura-Kandidat?

Dennoch könnte Lukaschenko sein Corona-Kurs, mit dem er zuvor apolitische Menschen gegen sich mobilisiert hat, noch gefährlich werden. Denn der Präsident bewegt sich zunehmend auf dünnem Eis. Im Internet wird er immer mehr zur Hassfigur. Wirklich gefährlich wäre für Lukaschenko aber wohl nur ein Konkurrent aus der Nomenklatura. "Es ist zumindest auffällig, dass mit dem früheren stellvertretenden Verteidigungsminister Valery Tsepkalo ein prominenter Politiker offenbar überlegt, bei der Wahl anzutreten", sagt Shreibman.

Tsepkalo hatte sich als Leiter des sehr erfolgreichen Hi-Tech-Parks einen Namen gemacht, eine Art belarussisches Silicon Valley. "Ob er, wenn er antritt, aber aus eigener Initiative oder als eine Art Regierungskandidat antritt, weiß man noch nicht", berichtet Shreibman. Fest steht aber: Sollte sich die Wirtschafts- und Corona-Krise in Weißrussland weiter verschärfen, könnte der Moment kommen, an dem Lukaschenkos Unterstützer von ihm abrücken.