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Gemeinsam arm: In Spanien schafft Corona ein neues Prekariat

Von WZ-Korrespondentin Maren Häußermann

Politik

Mehr als 100.000 Madrilenen sind auf Lebensmittelspenden angewiesen. Der Staat zeigt sich völlig überfordert.


Viele Menschen in Spanien sind arm, obwohl sie arbeiten. Saida zum Beispiel. Gemeinsam mit ihrem Ehemann führt sie ein marokkanisches Restaurant im Zentrum von Madrid. Couscous, Tahina und traditionelle Gerichte stehen auf der Speisekarte. Aber nun haben sie geschlossen und in den Büchern stehen keine Einnahmen, nur die Ausgaben für das Lokal laufen weiter. Und die Miete für die Wohnung. 55 Quadratmeter kosten 600 Euro im Monat. Saida und ihr Ehemann teilen zwei Zimmer, Küche, Bad und Wohnzimmer mit ihren vier Kindern. "So was Günstiges finden wir heute nicht mehr hier", sagt sie. Staatliche Hilfe für Selbständige erhalten sie für April und Mai, wie es weitergeht, weiß die 34-jährige noch nicht. Sie steht im Stadtviertel Lavapiés, vor dem Teatro del Barrio, dem lokalen Theater, und wartet auf Lebensmittelspenden.

Ein Land im Alarmzustand

Seit zwei Monaten befindet sich Spanien im Alarmzustand. Das heißt, die Restaurants und Läden sind geschlossen, ebenso wie die Hotels. Der Tourismus, der bis zu 13 Prozent der Arbeitsplätze ausmacht, ist stillgelegt. Kindern war es sieben Wochen lang verboten, das Haus zu verlassen. Nicht nur die Krankenhäuser kamen dem Coronavirus nicht mehr hinterher, auch die Administration ist überfordert. Das zeigt sich nun immer deutlicher an den zahlreichen Menschen, die auf Nahrungsmittelspenden angewiesen sind. In Madrid sind das bereits über 100.000.

Diese Zahl wurde ermittelt, nachdem ein Mann am Morgen des 9. Mai ein Video im Viertel La Latina aufgenommen hat, im Südosten Madrids. Fünf Minuten lang ging er an Menschen vorbei, die in einer scheinbar unendlich langen Schlange standen. Seit vier Uhr morgens warteten sie auf eine Tasche voll Lebensmittel, die für die ganze Woche reichen sollen. Zwischen 700 und 1000 davon wurden an diesem Tag ausgegeben.

Vor dem Theater, wo Saira steht, warten die Leute ebenfalls. Vor dem Haupteingang Familien, vor dem Hintereingang in der Parallelstraße die Obdachlosen. Die Nachbarschaftshilfe "La CuBa" besorgt und koordiniert Spenden, nimmt Vorbestellungen von bis zu 700 bedürftigen Familien entgegen und vermittelt sie an den Sozialservice weiter, sollten sie es wünschen. Die Stadt wiederum schickt Leute hierher, weil ihr die Kapazität fehlt, gezielt zu helfen.

Sonst helfen sie gar nicht, holen nicht einmal den Müll ab, beschweren sich die Freiwilligen, die zu einem großen Teil selbst in Kurzarbeit sind, so wie Martha, die seit dem 6. April auf das Geld vom Staat wartet. Mit ihr haben sich 140 Nachbarn zusammengefunden und auf einer Warteliste stehen die Namen weiterer Freiwilliger, die auch helfen wollen. Eine Taxifahrerin und Leute mit Fahrrädern bieten sich als Lieferdienste an, ein Restaurant bereitet warme Speisen zu. Mehr als 6000 Madrider Nachbarn engagieren sich in fast 60 solcher Netzwerke.

Das Coronavirus hat Spanien stark getroffen. Im Hotspot Madrid sind bisher 8760 Menschen an der Lungenkrankheit gestorben. Rund 10 Prozent aller Bewohner der Madrider Altenheime. Doch dass sich eine besonders düstere wirtschaftliche Aussicht hinter der Gesundheitskrise verbirgt, hängt auch noch immer mit dem Jahr 2008 zusammen.

Es gab schon vor der letzten Krise eine große Anzahl an Menschen in prekären Situationen, erklärt Gabriela Jorquera, die für die Regierung zum Thema Kinderarmut arbeitet. Das hängt vor allem auch mit den spanischen Wirtschaftssektoren zusammen. Der Tourismus und die Hotellerie stellen Arbeitskräfte nach Bedarf ein, ebenso wie der Bau. Die ersten Opfer sind auch dieses Mal wieder junge Leute und Familien, die von Zeitarbeitsverträgen abhängig sind. Als die Corona-Auswirkungen absehbar waren, wurden diese nicht verlängert.

Von Spenden abhängig

Die 43-jährige Michelle ist alleinerziehende Mutter und arbeitet als Putzfrau für wenige Stunden, zu einem niedrigen Lohn. Seit zwei Monaten arbeitet sie gar nicht. Mit ihren zwei Söhnen steht sie neben Saida und versucht, die Kinder zu bremsen, die sich schubsen und die Masken von den Gesichtern reißen. Gemeinsam wohnen sie in einer Einzimmerwohnung, die ein Bekannter sehr günstig vermietet hat. Sonst könnte sich Michelle in diesem Viertel nichts leisten, erst recht nicht ohne Gehaltszettel. Sollte sich eine Arbeitsmöglichkeit ergeben, kann sie sie nicht annehmen, weil die Schulen geschlossen sind und die Kinder daheim. "Ich bin immer klargekommen, habe immer einen Job gefunden, ich war noch nie von jemandem abhängig", sagt sie. Jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten und für die Spenden dankbar zu sein.

Laut einer Studie des Gemeinderats sind die Madrilenen dieses Mal schlechter auf die Wirtschaftskrise vorbereitet als 2008. Um die Produktivität zu steigern, wurden die Löhne gekürzt, die Langzeitarbeitslosigkeit ist höher und es gibt zu wenige Jobs. Dazu kommt, dass sich wirtschaftliche Probleme in Städten schnell zeigen. In guten Zeiten gibt es viele Arbeitsmöglichkeiten, in den schlechten bleiben die hohen Mieten. Die Reserven, auf die man in der letzten Krise zurückgreifen konnte, sind ausgetrocknet.

"Wenn Corona nicht ist, kann ich überleben", sagt Miguel. Vor Covid hat er in einer Bar gearbeitet, als Koch oder Kellner. Außerdem hilft er im Bau aus, als Maler oder in der Logistik. Es wird davon ausgegangen, dass in Spanien ungefähr 24 Prozent des BIP der Schwarzarbeit zuzurechnen sind und 90 Milliarden Euro der Staatskasse entgehen. Miguel hat keine Aufenthaltsgenehmigung und trägt zu dieser Zahl bei. Seine Frau wartet auf die Renta Minima, eine Art Sozialhilfe, die der Staat ab Juni auszahlen will. Doch noch ist das Geld nicht da. "Ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Plan, wie die Leute sich die Wohnung leisten sollen, ist die Quarantäne noch viel schlimmer", sagt er.

Aktuell sind sie bei einer Freundin untergekommen, aber es ist schon die dritte Wohnung, in der sie seit der Arbeitslosigkeit übernachten. Vorher hat sich die dreiköpfige Familie ein kleines Apartment mit einem anderen Paar geteilt. In der Bar hat Miguel zwischen 650 und 900 Euro pro Monat verdient und konnte sich die 650 Euro teure 3-Zimmer-Wohnung nicht leisten.

So geht es auch mehr als 23 Prozent der 2770 Obdachlosen in Madrid (Stand April 2019), die arbeiten. Im Zuge der Pandemie wurden vielen die Arbeitsverträge nicht verlängert. Ohne Job keine Wohnung, ohne Wohnung keine Anschrift, ohne Anschrift keinen Zugang zum Onlineportal der Administration, die erstmaligen Zugangscodes per Post verschickt. Das Arbeitslosengeld, welches auch diese Menschen über Wasser halten soll, lässt auf sich warten. So sind sie auf die Solidarität ihrer Nachbarn angewiesen.

Viele Wohnungen stehen leer

Alejandro kommt mit einem Kinderwagen an; ein Kleinkind an der Hand, das kritisch über seine Maske schaut. "Vor Corona haben wir die Nachbarn nicht gekannt. Jetzt kenne ich jeden, wir tauschen uns aus und helfen." Er zeigt auf die bunten Fähnchen, die über der Gasse und zwischen den Balconetten gespannt sind. "Das haben wir gemeinsam gemacht." Auf der Website von "La CuBa" hat der 37-jährige Designer gelesen, dass Kinderwägen und -kleidung gebraucht werden, nun bringt er die Spenden vorbei.

Sonst verlässt er das Haus nur, "um den Hund oder das Kind auszuführen". Er erzählt, dass früher mehr los war im Viertel, als es noch nicht gentrifiziert war. Lavapiés war immer ein sehr bescheidenes Viertel, es ist multinational, es gibt viele Menschen mit Problemen, aber auch viele Familien und viel Migration. In den letzten Jahren mussten viele Nachbarn wegen der hohen Wohnungspreise weiter an den Stadtrand ziehen. Jetzt, wo keine Touristen mehr da sind, stehen viele Wohnungen leer.