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Vertrauen durch Freiheiten in Schweden

Von Alexander Dworzak

Politik

Hinter dem Sonderweg in der Corona-Krise steht das spezielle Verhältnis zwischen Staat und Bürgern.


Er wird bewundert und bezweifelt, in jedem Fall aber bestaunt: der schwedische Sonderweg im Umgang mit dem Coronavirus. Das Offenhalten von Kindergärten und Schulen bis zur achten Schulstufe ließ international ebenso aufhorchen wie die offenen Restaurants und dass Menschenansammlungen bis 50 Personen weiterhin erlaubt sind. Aber auch in Schweden sind die Bürger angehalten, Abstand zu halten, wenn möglich von daheim zu arbeiten und nicht zu verreisen. Es sind Empfehlungen, keine Zwangsmaßnahmen. Das ist der maßgebliche Unterschied zu anderen Staaten.

Denn Eigenverantwortung wird in Schweden großgeschrieben. "Die Behörden vertrauen darauf, dass die Bevölkerung vernünftig handelt, ohne dass sie die Bürger durch Maßnahmen kontrollieren müssen", sagt Jeannette Bergström. "Umgekehrt vertrauen die Schweden darauf, dass die Behörden ihre Ressourcen gut einsetzen", erklärt die Lektorin für schwedische Landeskunde an der Abteilung für Skandinavistik der Universität Wien.

Trotz Freiwilligkeit 97 Prozent der Kinder geimpft

Dieses Vertrauen hat eine lange Tradition. Denn die Schweden hätten nicht nur seit 200 Jahren keine Kriegserfahrungen mehr, was die Einstellung zu Krisen beeinflusst habe, meint Bergström zur "Wiener Zeitung". Auch korrupte Behörden seien den Bürgern fremd. Die Empfehlungen des Gesundheitsamtes wurden daher bereits vor Sars-CoV-2 bereitwillig befolgt. So beruht beispielsweise das Impfprogramm auf Freiwilligkeit. Dennoch sind 97 Prozent der Kinder geimpft.

Wiewohl eine staatliche Behörde, arbeitet das Gesundheitsamt unabhängig von der Politik. Darin sieht Tobias Etzold, Mitglied des Forums Nordeuropäische Politik in Berlin, einen weiteren Baustein für das große Vertrauen. Den Leitlinien des Gesundheitsamts folgt die Regierung in der Corona-Krise. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven wurde sogar für seine mangelnde öffentliche Präsenz kritisiert, während Chefepidemiologe Anders Tegnell zum Gesicht des Sonderweges aufstieg.

Unabhängigkeit nennt auch Jeannette Bergström - neben Staatsvertrauen und Gleichberechtigung - als zentralen Wert der schwedischen Gesellschaft. Es ist also ein Wechselspiel: Weil die Bürger darauf bauen können, dass ihnen der Staat Freiräume lässt, setzen sie auf diesen.

Chefepidemiologe besorgt über hohe Todeszahl

Der auch als Verteidiger der Freiheit gefeierte Tegnell hält wenig vom "Lockdown" andernorts, und er hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Die Wörter Herdenimmunität und Durchseuchung gebraucht er nicht, betont aber das Warten auf einen Impfstoff. So lange könne eine Gesellschaft nicht derart eingeschränkt werden. Erst recht nicht eine vom Zuschnitt Schwedens. Daher soll ein Großteil der Bürger rasch immun gegen das Virus werden. Schweden verfolge einen "etwas ganzheitlicheren" Ansatz, meinte Tegnell in der "Daily Show". Die Schulen offenzulassen sei sehr wichtig für Kinder und ihre Gesundheit. Bedeutend sei auch, die Leute beschäftigt zu halten. "Die Arbeit zu verlieren, ist sehr gefährlich für die Gesundheit."

Dennoch schlägt das Virus auf die Wirtschaft durch, um knapp sieben Prozent sinkt das Bruttoinlandsprodukt Prognosen zufolge heuer - in etwa so stark wie im "Lockdown-Land" Österreich. Denn beide Länder haben exportorientierte Volkswirtschaften. Schweden ist dabei weniger von Klein- und Mittelbetrieben als von einer Handvoll Großkonzernen geprägt, die sich der weltweiten Krise nicht entziehen können.

Für die Wirtschaftsstruktur tragen weder Tegnell noch die Gesundheitsbehörde Verantwortung. Wohl aber müssen sie Kritik ob der hohen Sterblichkeitsrate einstecken. Zwar sinken auch in Schweden die Neuinfektionen und Todesfälle. Doch bereits mehr als 3500 Personen sind im 10,2-Millionen-Land bisher mit Covid-19 verstorben; in Österreich mit seinen 8,9 Millionen Einwohnern sind es lediglich 628. Von Anfang an gab Schweden die Devise aus, ältere Menschen von den Jüngeren zu separieren und so zu schützen. Ausgerechnet in Pflegeheimen schlug die Strategie auf dramatische Weise fehl. Vier von zehn Verstorbenen gehen auf Pflegeheime zurück, berichtete der schwedische Sender SVT. "Unsere Todesrate besorgt uns sehr", gibt auch Tegnell zu.

Nichtsdestotrotz sei das Vertrauen in die Regierung und das Gesundheitsamt seit Beginn der Corona-Krise gestiegen, berichtet Jeannette Bergström. Auch die größte Oppositionspartei, die bürgerliche Moderaterna, stützt die Behörden. Er weigere sich, "Hobby-Epidemiologe" zu spielen, sagte Moderaterna-Chef Ulf Kristersson. Die sonst so erfolgreichen rechtspopulistischen Schwedendemokraten spielen in der öffentlichen Diskussion derzeit keine Rolle.

Stärkste Konsensgesellschaft Skandinaviens

"Noch mehr als die anderen skandinavischen Länder ist Schweden eine Konsensgesellschaft", erklärt Tobias Etzold. "Der Wunsch, Konflikte zu vermeiden, spiegelte sich auch in der Asylpolitik wider." Er verweist auf die Ereignisse im Jahr 2015. Damals kamen 163.000 Personen ins Land, gemessen an der Einwohnerzahl so viele wie in keinem anderen EU-Staat. Schweden stieß an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit, und Premier Löfven verabschiedete sich von der liberalen Linie.

Die Nachbarn Dänemark und Norwegen agierten damals von Beginn an wesentlich restriktiver, ebenso wie nun in der Corona-Krise. Anders als die Maßnahmen sind auch die Strukturen: Nicht in unabhängigen Behörden wie in Schweden lägen die Kompetenzen, sondern in Dänemark und Norwegen primär in den Ministerien, erläutert Etzold gegenüber der "Wiener Zeitung". In Schweden hingegen seien im Regulierungsbrief, der jedes Budgetjahr verfasst wird, Ziele und Aufgaben der Behörden ebenso wie das Budget festgelegt, sagt Jeannette Bergström. Mischt sich ein Minister auch in andere Belange ein, könnte das ein Entlassungsgrund sein.

Leistungsaspekt versus Soziales bei Schulöffnung

Gemeinsam ist hingegen Stefan Löfven in Stockholm, Mette Frederiksen in Kopenhagen und Erna Solberg in Oslo, dass die Parteien aller drei Regierungschefs massiv an Zuspruch gewonnen haben. Die schwedischen Sozialdemokraten legten seit Anfang März ebenso wie die norwegischen Konservativen um rund zehn Prozentpunkte zu, Dänemarks Sozialdemokraten verzeichneten immerhin plus sechs Prozentpunkte.

Dänemark und Norwegen stehen an der Spitze jener Staaten, die ihre Corona-Maßnahmen wieder lockern. Seit Wochenbeginn sind in Dänemark wieder alle Geschäfte und Einkaufszentren offen. Ab Montag zieht die Gastronomie nach, auch Freiluftaktivitäten von Sportvereinen sind dann gestattet und Schüler von der sechsten bis zur zehnten Klasse wieder im Unterricht. Die älteren Schüler in Norwegen sind seit Anfang dieser Woche zurück, Kindergärten und Volksschulen öffneten bereits im April wieder.

Hier zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den nordischen Ländern und Österreich sowie Deutschland, wo Abschlussklassen zuerst zurückgekommen sind. "Im deutschsprachigen Raum steht der Leistungsaspekt im Vordergrund", analysiert Tobias Etzold. "Schweden, Dänemark und Norwegen haben die soziale Verantwortung im Blick, wenn auch wirtschaftliche Gesichtspunkte mit einfließen. Eltern können ihre Kinder nicht die ganze Zeit betreuen, da sie arbeiten müssen."