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"Es ist eine Pandemie in der Pandemie"

Von Siobhán Geets

Politik

Ungewollte Schwangerschaften, häusliche Gewalt und die Arbeit an vorderster Front: Frauen sind besonders von der Corona-Krise betroffen, sagt Anneka Knutsson vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen.


"Wiener Zeitung": Frauen und Mädchen sind besonders von der Corona-Krise betroffen. Während der Ausgangssperren stieg die häusliche Gewalt und viele Frauen arbeiten in systemrelevanten Berufen an vorderster Front. Welche Auswirkungen sehen Sie bereits?

Anneka Knutsson: Die Krise hat katastrophale Auswirkungen auf Frauen und Mädchen weltweit. Die Gesundheitssysteme sind überlastet, für die Frauengesundheit relevante Einrichtungen schließen. Pflegepersonal, vor allem Hebammen, werden von ihren Aufgaben abgezogen, um in der Krise auszuhelfen. Es ist nicht gelungen klarzumachen, dass Leistungen in der reproduktiven Gesundheit lebensrettend sind. Da geht es um Untersuchungen in der Schwangerschaft und nach der Geburt, um Verhütungsmittel, um Beratung. Ein weiterer Faktor für die besondere Betroffenheit von Frauen ist die Geschlechterungleichheit. Frauen haben häufig nicht die Entscheidungsfreiheit, Leistungen und Beratungen in Anspruch zu nehmen. Es mangelt an Informationen. Viele Frauen gehen in der Krise nicht in die Klinik, Hausgeburten nehmen zu. Werden sie nicht richtig begleitet, kann das schlimm enden. In Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen ist die Müttersterblichkeit angestiegen.

Schätzungen gehen von sieben Millionen ungewollten Schwangerschaften durch die Krise aus.

Durch die Unterbrechung von Lieferketten haben Frauen vielerorts keinen Zugang zu Verhütungsmitteln. Wir schätzen, dass bei längeren Ausgangssperren rund 47 Millionen Frauen keine Verhütungsmittel kaufen können. Im Sechs-Monats-Szenario gehen wir davon aus, dass sieben Millionen Frauen in Entwicklungsländern von unbeabsichtigten Schwangerschaften betroffen sein könnten. Damit steigt auch die Zahl jener Frauen, die zu unsicheren Schwangerschaftsabbrüche gezwungen sind. Diese Eingriffe sind ein riesiger Faktor in der Müttersterblichkeit.

Was kann unternommen werden?

Wir müssen sicherstellen, dass Gesundheitsleistungen auch in der Krise erhalten bleiben. In Indonesien haben Frauen keinen Zugang mehr zu Verhütungsmitteln, nun gehen Gesundheitsarbeiter von Haus zu Haus, um welche zu verteilen. Medizinische Beratung kann auch über das Telefon stattfinden, essenziell ist der Zugang zu Informationen. Wir als Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) arbeiten eng mit Regierungen zusammen. Wir haben gesehen, wie hart die Pandemie Länder mit starken Gesundheitssystemen getroffen hat. In Ländern mit schwachen Systemen haben viele Menschen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, es mangelt an Informationen. Wir müssen unsere Leistungen anpassen und dafür sorgen, dass Frauen und Mädchen nicht zurückbleiben.

Welche Langzeitfolgen entstehen durch die Krise?

Wir sehen auch Auswirkungen von Covid-19 im sozioökonomischen Bereich. So steigt etwa die Rate von Kinderehen. Diese wird von Armut angetrieben, Eltern verheiraten ihre Töchter für Geld. Traditionen wie weibliche Genitalverstümmelung (FGM) werden auch vermehrt praktiziert.

Wieso?

In Krisenzeiten berufen sich die Menschen wieder auf das, was sie kennen, auf ihre Grundwerte. Wer mit seiner Familie im Lockdown zu Hause eingesperrt ist, der trifft weniger auf Menschen mit einem anderen Weltbild. Man geht dann eben nicht in die Moschee, um dem aufgeklärten Imam zuzuhören, man geht nicht auf den Markt, um mit anderen Frauen zu debattieren. Mädchen kommen nicht hinaus, sie gehen nicht in die Schule. Da fällt ein wichtiger Schutz weg.

Wie verstärkt die Krise Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern?

In der Krise ist das hässliche Gesicht der Ungleichheit besonders gut zu erkennen - und je länger die Krise anhält, desto stärker werden diese Ungleichheiten. Von jenen, die im Gesundheitssystem an vorderster Front arbeiten, sind 70 Prozent Frauen. Sie sind besonders von der Pandemie betroffen, aber auch von der Genderdiskriminierung im Gesundheitswesen. Wir bekommen viele Berichte darüber, dass Hebammen die Letzten sind, die Schutzausrüstung bekommen - wenn überhaupt. Es geht nicht nur um das Virus und die Krankheit, sondern auch um die sozio-ökonomischen Auswirkungen auf Frauen und Mädchen. Frauen werden auch in der Krise schwanger und bekommen Kinder. Die Reproduktionsgesundheit ist ein lebenswichtiger Bereich. Werden diese Leistungen nicht als essenziell wahrgenommen, stürzen wir Frauen in eine Gesundheitskrise. Es ist eine Pandemie in der Pandemie: Die Gesundheitskrise ist für Frauen genauso schlimm wie die Corona-Pandemie selbst. Zudem ist es nicht gelungen, die Müttersterblichkeit sowie Gewalt gegen Frauen zu reduzieren. Je länger der Lockdown anhält, desto riskanter werden die eigenen vier Wände für Frauen und Kinder.

Wo sind die Auswirkungen der Krise auf Frauen besonders hoch?

Es ist zu früh, um zu sagen, welche Länder es am härtesten trifft, denn wir warten noch auf Zahlen und Statistiken. Sicher ist: Von Wien bis Addis und darüber hinaus leiden Mädchen und Frauen darunter, dass es bestimmte Gesundheitsdienstleistungen vorübergehend nicht gibt. In Ländern, die schon zuvor fragile Gesundheitssysteme hatten, sind auch Frauen stärker betroffen. Wir bei UNFPA sehen uns an, welche Leistungen Frauen brauchen, und versuchen, uns im Lockdown anzupassen. In Ländern wie Jordanien, dem Sudan, Libanon, Jemen und Libyen haben wir Hotlines für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen eingerichtet. Und in Simbabwe konnten Hebammen es sich nicht mehr leisten, in die Kliniken zu fahren, weil die Ticketpreise für die Verkehrsmittel erhöht wurden. Wir haben dafür gesorgt, dass sie wieder in die Arbeit kommen.

Sollte es zu einer zweiten Ansteckungswelle kommen: Haben wir etwas aus der Pandemie gelernt, sind wir das nächste Mal besser vorbereitet?

Ich denke schon. Wir wissen jetzt, wo es zu Engpässen kommt und was wichtig ist. Wir haben viel Vorbereitungsarbeit geleistet und die nötigen Kanäle eingerichtet, um auf die Pandemie zu reagieren. Wir sind in Alarmbereitschaft. Es darf nicht dazu kommen, dass frühere Investitionen in Frauengesundheit zunichte gemacht werden.

https://www.unfpa.org/sites/default/files/resource-pdf/COVID-19_impact_brief_for_UNFPA_24_April_2020_1.pdf

https://www.care.at/wp-content/uploads/2020/05/CARE-Palestine-WBG-Rapid-Gender-Assessment-Report-COVID19-April-2020.pdf

https://www.unfpa.org/resources/impact-covid-19-pandemic-family-planning-and-ending-gender-based-violence-female-genital

Zur Person~ Anneka Knutsson leitet die Abteilung für sexuelle und reproduktive Gesundheit im Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA). Die gelernte Hebamme studierte Gesundheitswissenschaften und arbeitete in der schwedischen Botschaft in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, bevor sie zum UNFPA stieß.