Berlin/Brüssel. Zu Pathos neigt Angela Merkel nicht unbedingt. Doch muss auch die deutsche Bundeskanzlerin manchmal darauf zurückgreifen, wenn sie ihre Kabinetts- oder EU-Amtskollegen zur Kooperation bewegen will. "Noch nie waren Zusammenhalt und Solidarität so wichtig wie heute", befand sie daher am Donnerstag bei ihrer Regierungserklärung in Berlin. Die Corona-Pandemie und deren Folgen seien nämlich die größte Herausforderung in der Geschichte der Europäischen Union.
Beim Versuch, diese zu meistern, wird Deutschland eine wesentliche Rolle spielen. Die größte Volkswirtschaft in der Gemeinschaft übernimmt am 1. Juli von Kroatien den EU-Vorsitz. Und auch wenn Merkel sich schon beim vergangenen Mal, während der Ratspräsidentschaft 2007, einem Krisenszenario gegenübersah, als die mühsam ausgehandelte EU-Verfassung zunächst einmal gescheitert war, so bietet die aktuelle Situation noch mehr Konfliktpotenzial.
So könnte Deutschland über den engen Rahmen hinausgehen, der einem Vorsitzland sonst abgesteckt wird. Denn es ist nicht nur die übliche Vermittlerrolle gefragt, sondern Führungskraft. Und Berlin scheint dem Anspruch gerecht werden zu wollen. Diese Bereitschaft ortet Janis Emmanouilidis von der in Brüssel ansässigen Denkfabrik EPC (European Policy Centre). "Es geht dabei nicht um hegemoniales Denken oder darum, dass Deutschland anderen seinen Willen aufzwingt. Es geht um Führungsverantwortung", sagt der EU-Experte.
Dabei könnten ursprünglich geplante Projekte in den Hintergrund geraten. Berlin wollte etwa auf eine Reform des Asylsystems drängen, doch wird wohl die meiste Energie in die Bewältigung der Corona-Pandemie fließen, deren Auswirkungen noch unklar sind. So rücken etwa Fragen nach einer stärkeren Zusammenarbeit im Gesundheitssektor in den Fokus. Ebenso sollen Mechanismen ausgearbeitet werden, die künftige innereuropäische Grenzschließungen verhindern sollen.
Chaos und Zusammenhalt
Denn als die Mitgliedstaaten sich abschotteten und ihre Grenzen dicht machten, fehlte jegliche Koordination. Als die Schlagbäume wieder hochgingen, stand es um die Zusammenarbeit nur etwas besser. "Die EU ist chaotisch in die Krise gegangen, und sie bewegt sich etwas weniger chaotisch aus ihr heraus", stellt Emmanouilidis fest. Doch in der Zwischenzeit habe die Gemeinschaft auch ihre Stärke bewiesen, hätten sich die Länder zusammengerauft und Entscheidungen etwa zu Corona-Hilfsprogrammen oder zu mehr Flexibilität in der Haushaltspolitik gefällt.
Nun muss der nächste Kompromiss gefunden werden: Das EU-Budget für die Jahre 2021 bis 2027 ist zu fixieren. Die Verhandlungen um die Unionsausgaben gehören zu den mühsamsten in der EU. Sie müssen unter deutschem Vorsitz aber an Tempo gewinnen. Auch da wird Führungskraft gefragt sein.