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"Abwesenheit der EU führt zu Wirrwarr"

Von WZ-Korrespondent Andreas Lieb

Politik

Jean-Claude Juncker stand jahrelang als Premier an der Regierungsspitze Luxemburgs, leitete die Eurogruppe und später die EU-Kommission. Im Gespräch erläutert er, warum es nur eine europäische Reaktion auf die Corona-Krise geben darf.


Das Büro von Jean-Claude Juncker liegt jetzt im 8. Stock des Kommissionsgebäudes. Viele Erinnerungsstücke prägen den Raum, Fotos, Bücher, Bilder. Als Sonderberater gehört der ehemalige Präsident der EU-Kommission administrativ zu Haushaltskommissar Johannes Hahn. Ist Hahn jetzt sozusagen sein Chef? Nein, schmunzelt Juncker, Hahn sei sein Freund. Auf dem Schreibtisch liegt ein legendäres Accessoire: das alte Nokia-Handy aus einer Zeit, als an Smartphones noch geforscht wurde. Völlig abhör- und hackersicher, das hätten ihm alle Geheimdienstleute der Welt bestätigt, sagt Juncker. Dann holt er aber doch eine neue Errungenschaft heraus: ein Tablet in dicker Schutzhülle. Ein iPhone hat er inzwischen auch bekommen.

"Wiener Zeitung": Nach dem Chaos am Beginn der Corona-Pandemie mit geschlossenen Grenzen und Streit um medizinische Güter scheint sich die Lage langsam zu beruhigen. Wo steht Europa jetzt?

Jean-Claude Juncker: Seit Jahren fangen Gespräche mit der Frage an: Wie gehen wir mit der aktuellen Krise Europas um? Jetzt haben wir wirklich eine, die ganze Welt hat sie. Am Anfang hat die Europäische Union keine gute Figur abgegeben. Auf die Kommission bezogen bin ich nachsichtiger, weil diese über keine Zuständigkeit in der Gesundheitspolitik verfügt. Es fehlt der Bezugsrahmen, jeder Staat hat sich auf den einzig existierenden verlassen: den nationalen. Das Ansinnen der EU, Kompetenzen zu bekommen, ist mehrfach gescheitert. Ich kann mich erinnern: Wie wir dabei waren, den europäischen Verfassungsvertrag vorzubereiten, wollten einige Regierungen eine Kompetenzerweiterung in Richtung Gesundheitspolitik. Eine Mehrheit der Mitgliedstaaten hat das abgelehnt. Jetzt hat sich schon nach wenigen Tagen herausgestellt, dass nicht jedes Land sein eigenes Corona-Süppchen kochen soll.

Ist die Konsequenz daraus, dass die EU mehr Kompetenzen braucht?

Ja, das sollte eine der Lehren aus der Pandemie sein. Wenn es grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen gibt, dann müssen die Staaten und die Kommission koordiniert handeln.

Aber viele hatten doch das Gefühl, dass gerade die Länder selbst sehr gut mit ihrer jeweiligen Situation umgehen konnten - das wäre von Brüssel aus doch schwer gewesen.

Brüssel allein ist falsch, es geht um gemeinsames Handeln. Bei den Grenzschließungen hat man ja gemerkt, dass die Abwesenheit der EU zu einem Wirrwarr führt. Nur ein Beispiel: Wenn heuer ausgerechnet am 25. Jahrestag des Schengen-Abkommens die deutsche Bundespolizei an den Grenzen zu Luxemburg mit Maschinengewehren auf den Moselbrücken steht, hat das doch das Zutrauen zur EU in diesen Regionen sehr erschüttert. Die Menschen waren wütend und traurig. Offene Grenzen schließt man nicht einfach so. Das Virus lässt sich durch Polizei nicht stoppen. Ich schreie nicht von den Dächern, dass wir mehr Europa brauchen, manchmal haben wir auch zu viel. Aber in diesem Fall wurde in den Herzen der Menschen viel zerstört. Jetzt lenkt es sich langsam ein.

Heuer ist alles aus dem Lot, auch das mehrjährige EU-Budget hätte schon längst beschlossen sein müssen. In zwei Wochen gibt es einen Sondergipfel. Wird es einen Kompromiss geben?

Man hätte das schon vor Monaten zum Abschluss bringen müssen. Meine Kommission hat im April 2018 sehr detaillierte Vorschläge gemacht. Der Rat - das Gremium der Länder - hat sich verdribbelt. Es kam nie zum ernsthaften Versuch, das zum Abschluss zu bringen. Wenn wir das nicht schnellstens hinkriegen, dann entsteht eine Lage, die vielen Regierungschefs unbekannt ist: Ab Jänner 2021 werden die Programme nicht starten können. Es werden weniger Studenten am Erasmus-Programm teilnehmen können, tausende Forscher verlieren ihren Job - dabei käme es in der Pandemiekrise gerade auf die Forschung an. Ein Beschluss ist an den Regierungen gescheitert. Ich würde mir wünschen, dass der Gipfel weitgehende Übereinkünfte bringt. Stattdessen diskutiert man derzeit aber abseits der eigentlichen Problematik über die Standpunkte der "frugalen Vier".

Österreich, Schweden, die Niederlande und Dänemark - das wäre meine nächste Frage gewesen . . .

Ich habe Verständnis dafür, dass die Länder einen pfleglichen, zielorientierten Umgang mit Steuergeldern sicherstellen. Aber dass man sich da nicht aus den Schützengräben heraus und sich aufeinander zubewegt - ohne zu schießen -, dafür fehlt mir das Verständnis.

Ihre Nachfolgerin Ursula von der Leyen hat gemeint, das alles sei ein üblicher Vorgang bei Verhandlungen. Die Länder würden halt versuchen etwas herauszuholen, Rabatte zum Beispiel.

Dafür bringe ich Verständnis auf. Aber jetzt muss man sich zusammenraufen. Ich hatte den Ratsvorsitz 2005, als es um die damaligen Finanzperspektiven ging. Der britische Premier Tony Blair hat das verhindert und dann selbst als Ratsvorsitzender ein halbes Jahr später einen Kompromiss vorgelegt, der eine Milliarde Euro unter meinem Vorschlag war. Reine innenpolitische Betrachtungsweisen führen ins europäische Aus. Ich wage zu bezweifeln, ob die sparsamen Vier - ich will nicht sagen: geizigen Vier - in den letzten Jahren immer so sparsam waren. Ich habe ein gutes Haushaltsempfinden aus meiner Zeit als Eurogruppenchef. Das war nicht alles immer so orthodox, wie es in der Nachbetrachtung erscheinen mag. Wenn wir in der Griechenlandkrise all denen zugehört hätten, die Griechenland aus dem Euroraum verbannen wollten, dann hätte Europa schon damals eine massive Krise mit unabsehbaren Folgen erlebt. Wenn ein Land des Raumes verwiesen wird, bleibt im Raum Unruhe. Ich nehme das ernst, was Österreich und die anderen sagen, aber ich wehre mich gegen den Eindruck, den die vier vermitteln, als ob es in den letzten Jahren zu keinerlei Haushaltskonsolidierungen gekommen wäre.

Als ich 2014 mein Amt als Kommissionspräsident angetreten habe, gab es ein durchschnittliches Haushaltsdefizit von 6,2 Prozent in der Eurozone. Als ich abtrat, waren es noch 0,7 Prozent. Die öffentlichen Schuldenstände wurden nach unten korrigiert - immer noch nicht genug, aber um drei oder vier Prozent. Jetzt so zu tun, als ob es da Faulenzer im Süden Europas gegeben hätte, die nichts unternommen haben, ist falsch. Ich habe heroische Kämpfe mit den Italienern durchstehen müssen, um sie zu vernünftiger Haushaltspolitik zu bewegen. Da ist viel passiert, aber nicht genug. Spanien, Portugal, Irland haben sich aus dem Haushaltsloch befreit.

Im Gegensatz zur Finanz- hat die Pandemie-Krise alle Staaten symmetrisch betroffen. Die Auswirkungen aber sind asymmetrisch. Der politische Umgang damit ist nun eigentlich einfacher. Allen leuchtet ein, dass Europa handeln muss. Ich wünsche mir, dass es beim Juli-Gipfel schnell zu einer Einigung kommt; wir haben keine Zeit zu verlieren.

Hauptargument Österreichs und der anderen drei Länder ist, es solle keine Vergemeinschaftung von Schulden geben. Gemeint ist vor allem Italien.

Die Sorge ist verständlich, sie trifft aber in der holzschnittartigen Beschreibung nicht zu. Es geht bei dem Vorschlag der Kommission ja nicht darum, Altschulden zu vergemeinschaften, sondern die neu anstehenden Schulden - niemand streitet ab, dass sie für eine Krisenantwort gemacht werden müssen - solidarisch zu finanzieren. Es geht nicht darum, dass die Menschen in Österreich, die ich sehr mag, in Haftung genommen werden für Fehler der Vergangenheit. Es geht darum, dass kein Land der Union völlig abgleitet. Es ist im Interesse Österreichs, dass Italien mit der besonderen Last der Pandemie zurande kommt. Es ist doch klar, was passiert, wenn sich die europäische Wirtschaft mangels Solidarität negativ entwickelt. Die Antwort auf die Pandemiekrise kann nur eine solidarische sein.

Kommt dann am Ende nicht doch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten heraus? Länder mit langem Atem als Gewinner und die anderen, etwa im Osten, die nicht mitkommen?

Wenn wir keine adäquate Krisenantwort finden, wird es keine Nettogeber mehr geben, dann wird es nur noch Nettoverlierer geben. Ich war auch immer gegen diese Aufteilung der Staaten in Zahler und Empfänger. Die Nettozahler müssen sich fragen, wenn das Mutterland der Rabatte, Großbritannien, aus der Union ausscheidet, warum sie dann unbedingt an Rabatten festhalten wollen.

Stichwort Großbritannien: Diese Woche gab es wieder eine Brexit-Gesprächsrunde. Chefverhandler Michel Barnier macht von einem zum anderen Mal einen grantigeren Eindruck.

Barnier wird nicht grantig, er spricht deutlich aus, was die 27 Mitgliedstaaten denken. Es gibt eine Übereinkunft von Boris Johnson und mir selbst vom Oktober 2018, wo die zukünftigen Beziehungen festgezurrt werden. Der Versuch, aus diesem einvernehmlichen Korsett aus Gott-weiß-was-für Gründen – wahrscheinlich aus innenpolitischen - auszubrechen, trifft auf den erbitterten Widerstand der Mitgliedstaaten. Man muss sich an Vereinbarungen halten, da spielt Wettbewerbsfairness eine Rolle. Ich habe den Eindruck, die Briten steuern bewusst auf einen No Deal zu. Das kann weder in ihrem Interesse noch in jenem der EU sein. Das wird vor allem Großbritannien Schaden zufügen.

Eine Beziehung ähnlich jener zur Schweiz mit zahlreichen Einzelverträgen gilt als zu kompliziert und nicht praktikabel. Wäre es denkbar, eine Art "Schweiz light" zu machen, mit einigen wenigen Rahmenverträgen?

Dieser Weg, den manche in Großbritannien vorschlagen, ist nicht gangbar. Das würde auch langjährige Verhandlungen nötig machen. Ich habe in meiner Amtszeit 15 Handelsverträge abgeschlossen, mit Kanada, Japan, Singapur usw. Das hat jahrelange Verhandlungen gebraucht. Ich habe das dann forciert, auch um den Amerikanern zu zeigen, dass es ohne sie geht. Aber die Vorstellung, dass das einfach so geht, ist aberwitzig. Das gilt auch für die Briten, wenn sie mit anderen Teilen der Welt Verträge abschließen wollen. Abkommen werden hier mit der Kommission abgeschlossen, nicht mit den Mitgliedstaaten. Ich habe den Eindruck, dass die Briten derzeit weder die sachlichen noch personellen Voraussetzungen haben, um solche Verträge abzuschließen. Es wäre besser, man würde bei den Vereinbarungen bleiben, die wir abgeschlossen haben.

Ansonsten steuern wir auf einen No Deal zu?

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Vernunft einkehrt. Das wird nicht am guten Willen der EU scheitern.

Ist es von Vorteil, dass gerade jetzt Deutschland den Ratsvorsitz übernommen hat?

Das ist ein glücklicher Umstand. Allerdings sind die Präsidentschaften nicht das, was sie früher einmal waren. Die Deutschen diktieren nicht alleine das Tempo, aber ohne sie würde es kein Tempo geben.

Kommen Sie heuer wie immer auf Urlaub nach Tirol?

Ich bin im August wieder dort, ich will diese Wochen beim Stanglwirt in Going nicht missen. Ich fühle mich da pudelwohl, habe auch sehr viele freundschaftliche Kontakte in Tirol. Da lande ich immer wieder glückseligst.