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Gipfel-Drama um Zeit, Geld und Recht

Von Andreas Lieb aus Brüssel

Politik

Beim Sondertreffen der EU-Staats- und Regierungschefs geht es um Ausgaben in Höhe von mehr als 1,8 Billionen Euro.


Nach zahlreichen Videokonferenzen während der Corona-Pandemie erstmals wieder im realen Umfeld: Am heutigen Freitag kommen die Staats- und Regierungschefs der EU zu einem Gipfel in Brüssel zusammen. Und es ist eines der wichtigsten Sondertreffen  seit langem. Denn die 27 Spitzenpolitiker sollen gemeinsam mit den Vertretern anderer EU-Institutionen in zwei gewaltigen Themenbereichen zu einer Einigung finden. Zum einen drängt die Zeit für den Budgetplan für die Jahre 2021 bis 2027, zum anderen geht es um die Details des "Next Generation EU" genannten Wiederaufbauprogramms für die Wirtschaft, dessen Finanzierung bis ins Jahr 2058 reichen könnte. Zwar gibt es grundsätzlich quer durch die Mitgliedsländer Zustimmung, über die Details wird aber heftig gestritten.

Zum Budget und dessen Finanzierung hatte es schon bisher Diskussionen gegeben; die Beitragsleistungen der Staaten orientieren sich an der europäischen Wirtschaftsleistung. Das EU-Parlament hat für die nächsten Jahre 1,3 Prozent davon verlangt, die Kommission berechnete zunächst 1,114 Prozent, vergangene Woche reduzierte Ratspräsident Charles Michel das noch einmal und veranschlagte einen Gesamtbetrag von 1074 Milliarden Euro für sieben Jahre.

Umstrittene Balance

Österreich hatte auf Einsparungen gedrängt und war lange bei einer Obergrenze von einem Prozent geblieben - inzwischen scheint aber klar, dass der Schlüssel angesichts der verheerenden Corona-Folgen für die gesamte Wirtschaftsleistung neu berechnet werden muss. Der Vorschlag Michels beinhaltet im Grunde ein Beibehalten der hohen Agrar- und Kohäsionszahlungen - der Agrarbereich war eine zentrale Forderung Österreichs -, sieht aber Reduzierungen bei Bildung und Forschung vor, die seiner Vorstellung nach über Umwege wieder hereingebracht werden sollen.

Unmittelbar mit dem Finanzplan verknüpft soll der Wiederaufbaufonds sein. Über das Modell gibt es grundsätzlich Einigkeit - die EU-Kommission wird ermächtigt, 750 Milliarden Euro auf dem Finanzmarkt aufzunehmen. Dann gehen die Meinungen quer durch Europa aber schon völlig auseinander. Der Plan ist, dass 250 Milliarden Euro als rückzahlbare Kredite bereitgestellt werden, der doppelte Betrag, also 500 Milliarden Euro, aber als Zuschüsse in die Länder gehen soll.

Für Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, aktives Mitglied der "sparsamen Vier", zu denen noch Dänemark, Schweden und die Niederlande gehören, stimmt die Balance nicht. Zwar sei es "wichtig, jenen Ländern zu helfen, die am ärmsten und am meisten von der Corona-Pandemie betroffen sind", erklärte er im Vorfeld des Gipfels. Doch sollte die Auszahlung des Geldes an klare Bedingungen geknüpft sein. "Gegenüber unseren Steuerzahlern haben wir eine große Verantwortung", befand Kurz. Auch deswegen sollten die Mittel "richtig" investiert sein, etwa in Digitalisierung oder Klimaschutz - und unter Berücksichtigung von Rechtsstaatlichkeit und Reformwillen.

Der Faktor Zeit

Die Rechtsstaatlichkeit, schon bisher bei Budgetverhandlungen ein zentrales Thema, ist einer der großen Stolpersteine bei den Gesprächen. So drängt das Parlament in Budapest darauf, dass Ungarn dem Finanzpaket nur dann zustimmen soll, wenn das Land ohne Kontrolle selbst über die EU-Mittel verfügen kann - und die EU das laufende Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit zurückzieht.

Unterschiedliche Vorstellungen gibt es ebenfalls darüber, in welchem Zeitrahmen das Geld aus- beziehungsweise zurückgezahlt werden soll, auch die Frage der Rabatte ist noch nicht endgültig geklärt. Für Nettozahler Österreich ist im Michel-Vorschlag bereits ein jährlicher Abschlag von 237 Millionen Euro vorgesehen - ob das Wien reicht, ist fraglich.

Eine enorm wichtige Rolle spielt der Faktor Zeit. Die Länder verhandeln darüber, den Ausschöpfungszeitraum von vier auf drei Jahre zu verkürzen. Das könnte aber zur Folge haben, dass nur ein Teil der Mittel verwendet wird - und, dass die begleitende Kontrolle beziehungsweise die Entwicklung der Programme nur halbherzig erfolgt.

Diese Sorge bestätigt auch der ÖVP-Europaabgeordnete Othmar Karas: "Ich bin sehr skeptisch, was die drei Jahre betrifft. Es muss genug Zeit sein, um Reformen einzuleiten." In einem Pressegespräch hielten es am Donnerstag die österreichischen EU-Mandatare von gleich vier Parteien (ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos) für realistisch, dass das Parlament die Rechtsstaatlichkeit ebenso wie andere Vorgaben definitiv auch weiterhin an seine Zustimmung knüpft: "Das Parlament blockiert nicht, es nimmt seine Verantwortung wahr", sagte etwa Monika Vana (Grüne).

Die CSU-EU-Abgeordnete Monika Hohlmeier, Vorsitzende im Haushaltskontrollausschuss der Volksvertretung, nennt den aktuellen Vorschlag einen "Minimalkonsens", dem eine klare Vision für Europa fehle. Die vorliegenden Pläne "sind ein Schritt in die richtige Richtung, reichen aber bei weitem nicht aus". Das EU-Parlament fordere "ein klares Bekenntnis zum Rechtsstaatlichkeitsmechanismus" und ein Kontrollrecht bei den Aufbauprogrammen.

Suche nach Eigenmitteln

Ein gänzlich offenes Kapitel sind neue Eigenmittel, die in der Zukunft den Ländern die finanzielle Last abnehmen sollen. Geht es nach der Kommission, soll schon in absehbarer Zeit Geld aus einer Digital- und einer Finanztransaktionssteuer, CO2-Grenzabgabe, Plastiksteuer oder ähnlichen Quellen nur so sprudeln. Allerdings bedarf es für solche neuen Abgaben erst recht des Einvernehmens der Länder - und das ist in weiter Ferne. Charles Michel hat zunächst nur Plastikmüll- und Digitalsteuer erwähnt; alle anderen ließ er, ob aus Vorsicht oder Realismus, vorerst weg.

Klar scheint inzwischen, dass die Vergabe der Mittel zumindest an gewisse Bedingungen geknüpft ist. Die Länder sollen eine "Reform- und Investitionsagenda" festlegen, für die Freigabe könnte jeweils eine qualifizierte Mehrheit im Rat nötig sein. Verknüpft sind die Riesensummen auch mit den großen Zielen der EU, also etwa mit dem "grünem Deal" oder der Digitaloffensive. Die Frage ist, wie sehr sich die Länder tatsächlich in ihren Plänen und Projekten von Brüssel etwas sagen lassen wollen. Für Sebastian Kurz und andere Regierungschefs, etwa für Mark Rutte in den Niederlanden, geht es auch um genau diesen Punkt: "Es sind noch wichtige Fragen offen bei der Umsetzung, welche Summen dafür objektiv notwendig sind und wer konkret dafür aufkommen soll", sagt Kurz.

Antworten darauf sollen heute, Freitag und am morgigen Samstag gesucht werden. Wenn nötig, kann das Treffen bis übers Wochenende dauern - oder es wird ein weiterer Sondergipfel noch im Juli einberufen.