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Lukaschenkos Weißrussland ist nicht mehr

Von Gerhard Lechner

Politik
Junge Weißrussen rennen auf den Straßen von Minsk gegen die Diktatur an.
© reuters/Vasily Fedosenko

Solche Proteste hat das Land noch nicht gesehen: Machthaber Lukaschenko musste seinen Repressionsapparat mobilisieren, um die Situation nach der Wahl unter Kontrolle zu halten. Doch es ist fraglich, wie loyal Polizei und Militär noch sind.


Politische Entwicklungen vollziehen sich oft unbemerkt. Am Grunde der Moldau, dichtete einst Bertolt Brecht, wandern die Steine - langsam, fast unmerklich, aber doch. Eines Tages erhellt dann ein Ereignis, was sich in langen Jahren vorbereitet hat. "Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag."

In der Nacht von Sonntag auf Montag, in der Nacht nach der Bekanntgabe des Sieges von Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, vollzog sich in Belarus solch ein Ereignis. Menschenmassen strömten in das Zentrum der Hauptstadt Minsk, um gegen den ihrer Meinung nach gefälschten Wahlsieg des autoritären Herrschers zu protestieren, der in ersten staatlichen Exit Polls bereits verkündet worden war. Laut dem vorläufigen Ergebnis der Wahlkommission vom Montag sprachen sich 80,23 Prozent der Stimmberechtigten für Lukaschenko aus. Dessen Gegnerin Swetlana Tichanowskaja, die davor landesweit wochenlang die Plätze füllte, kam demnach nur auf 9,9 Prozent der Stimmen.

Ergebnis kaum vorstellbar

Tichanowskaja, die nach der Verhaftung ihres Mannes als Verlegenheitskandidatin eingesprungen war, kann das nicht glauben. Sie erkennt das offizielle Resultat nicht an und kündigt weitere Proteste an. Aus dem Ausland gab es Berechnungen, nach denen Tichanowskaja teils mehr als 80 Prozent der Stimmen erhalten habe.

Selbst wenn jenseits der Grenzen nicht gerade Lukaschenkos Freunde wohnen: Ein Wahlergebnis wie das offiziell verkündete scheint - schon allein aufgrund der extrem hohen Wahlbeteiligung - kaum vorstellbar. In Internetbefragungen vom Juni ließ der aussichtsreichste Gegenkandidat Wiktor Babariko mit über 50 Prozent den Amtsinhaber, der auf nur 3 Prozent kam, weit hinter sich - Lukaschenko ließ daraufhin den Rivalen inhaftieren. Zwar bilden auch Internetbefragungen die Realität nur ungenügend ab - laut dem Minsker Politologen Artjom Schraibman dürfte Lukaschenko zumindest auf rund 25 Prozent der Wahlberechtigten zählen können. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der in Teilen des Volkes lange populäre Autokrat weiterhin über eine knappe Mehrheit verfügt, zumindest über eine relative. Die offiziellen Zahlen vom Wahlabend aber, die üblichen rund 80 Prozent, wirkten für viele Weißrussen wie eine Provokation - und als letzter Anreiz, dem lang aufgestauten Unmut Ausdruck zu verleihen.

Dramatische Bilder

Was sich in den Straßen von Minsk, aber auch in vielen Provinzstädten in der Nacht auf Montag abspielte, war für Weißrussland bisher beispiellos. Auch die blutige Niederschlagung der Proteste von 2010, die zu EU-Sanktionen geführt hat, war damit nicht vergleichbar. Es kam zu blutigen Zusammenstößen mit vielen Verletzten, in Minsk setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer, Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Die Demonstranten errichteten Barrikaden, es gab viele Bilder von blutüberströmten Menschen. Polizisten prügelten brutal auf Demonstranten ein, diese aber auch auf Polizisten, um Festnahmen zu verhindern. Laut den Behörden gab es landesweit mehr als 3000 Verhaftungen und rund 100 Verletzte auf beiden Seiten. Im Internet verbreitete sich ein Video von einem Demonstranten, der an einem fahrenden Polizei-Lkw seitlich an der Fahrertür hing und augenscheinlich versuchte, diese zu öffnen. Er wurde angefahren und blieb reglos liegen. Möglicherweise ist er tot, die Polizei dementiert das.

Bis zu 100.000 Menschen sollen sich in der Hauptstadt an den Protesten beteiligt haben. Es hätten auch mehr sein können: Lukaschenko ließ die Zufahrtsstraßen nach Minsk von der Armee abriegeln, um zu verhindern, dass Demonstranten aus der Provinz nach Minsk strömen. Das Militär setzte der Präsident wohl auch als letzte Trumpfkarte ein, falls die üblichen Repressionsmethoden nicht fruchten sollten.

Am Montagmorgen war die Lage wieder ruhig, der Einsatz von Gewalt hat also - zumindest kurzfristig - gewirkt. Die Proteste sollen aber fortgesetzt werden, und es stellt sich die Frage, ob Lukaschenko in seinen eigenen Reihen noch über genug Rückhalt verfügt. In kleineren Städten wie Pinsk oder Bobrujsk wechselten am Sonntagabend bereits Teile der Polizei die Seiten. Auch viele Soldaten der Armee sprachen sich in sozialen Netzwerken gegen den Autokraten aus. Das mag nicht viel heißen, solange ihre Vorgesetzten dem Langzeitherrscher, der in Weißrussland bereits fast 26 Jahre regiert, die Treue halten.

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Doch auch hier gibt es ein Fragezeichen: Russland. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten sind, wie die Affäre um die 33 in Belarus festgenommenen mutmaßlichen russischen Söldner zeigte, nicht die besten. An sich sind Belarus und Russland seit dem 1990er Jahren in einem Unionsstaat verbunden, weitere Integrationsschritte sind geplant. Während Russland diesbezüglich Druck macht, verweigerte sich Lukaschenko, ursprünglich ein Anhänger der Sowjetunion, weiteren Maßnahmen.

Militär- und Sicherheitsstrukturen sind zwischen Moskau und Minsk eng verflochten, Russland verfügt über zahlreiche Einflussmöglichkeiten im Land. Auch über einen möglichen Militärputsch oder "Regime Change" unter russischer Anleitung wird deshalb spekuliert. Allerdings würde das für den Kreml ein enormes Risiko mit sich bringen: Denn die Opposition im weitgehend russischsprachigen Weißrussland ist trotz aller kulturellen und sentimentalen Bindungen nach Osten geopolitisch Richtung Westen orientiert. Der Kreml könnte also theoretisch auch seinen Verbündeten im Westen verlieren - ein wohl zu hoher Einsatz für einen Regimewechsel. Es ist daher kein Wunder, dass sich nach dem Konflikt um die mutmaßlichen russischen Söldner, denen Lukaschenko Putschabsichten unterstellte, die Wogen wieder geglättet haben. Während es aus Polen, den baltischen Staaten und aus Brüssel teils schroffe Kritik an Lukaschenkos Vorgehen gab, gratulierten Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping ihrem Minsker Amtskollegen zur Wiederwahl.

Traktoren und Partisanen

Der bäuerlich-sowjetisch geprägte Lukaschenko ist als ehemaliger Leiter einer Kolchose und als Ex-Politoffizier in der Roten Armee zutiefst sowjetisch geprägt. Das erklärt aber auch seinen langjährigen Erfolg: Denn das von beiden Weltkriegen heimgesuchte Weißrussland, früher ein Armenhaus, brachte es zu Sowjetzeiten zu bescheidenem Wohlstand.

Bei seiner ersten Präsidentenwahl 1994 war Lukaschenko eine Art populistischer Außenseiter, der in einer freien Wahl einen beeindruckenden Sieg einfuhr. Statt auf die fragile, aufs ferne Großfürstentum Litauen zurückgehende Landesidentität setzte Lukaschenko auf Altbekanntes, Näherliegendes: Auf die konkrete Erfahrung des sowjetischen Belarus, wozu die Minsker Traktorenwerke und die großen Landwirtschaftsbetriebe ebenso zählen wie die heldenhaften Partisanen, die während des "Großen Vaterländischen Krieges" von 1941 bis 1944 auf dem Territorium Weißrusslands kämpften. Passend dazu hat Lukaschenko 1995 auch die Landesflagge wieder geändert und erneut eine leicht veränderte Version der Flagge der weißrussischen Sowjetrepublik eingeführt.

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Dass sich dieses Belarus überlebt hat, weiß wohl auch Lukaschenko. Besonders die akademische Jugend hat von dieser Erzählung schon lange genug. Die alte weiß-rot-weiße Flagge mit dem "Pahonja"-Reiter, die auf das Großfürstentum Litauen zurückgeht, hat sich zu einem Protestsymbol entwickelt. Durch Wirtschafts- und Corona-Krise erreicht der Protest nun breitere Schichten. Auch die lange kaum genutzte weißrussische Sprache erlebt eine Renaissance. Am Grunde der Moldau wandern die Steine, und das Belarus der Zukunft wird anders aussehen als das des Alexander Lukaschenko.