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Die "Wohlfühldiktatur" zeigt ihr wahres Gesicht

Von Gerhard Lechner

Politik
Ein schwer bewaffneter Polizeibeamter vor einem Gefangenentransporter in Minsk.
© reuters/Vasily Fedosenko

Die Brutalität der Sonderpolizei Omon schockiert viele Weißrussen - und macht eine Verständigung mit Präsident Lukaschenko unmöglich.


Minsk/Brüssel/Washington. Lange Zeit galt Weißrussland als eine Art Wohlfühldiktatur. Gewiss, das Land wird von Präsident Alexander Lukaschenko autoritär regiert, da gibt es keinen Platz für Mitbestimmung. Politische Gegner des Präsidenten wurden und werden verfolgt, einige in den 1990er Jahren sogar ermordet - per Genickschuss mittels staatlicher Exekutionspistole. Wer aufmuckte, bekam die Härte des Regimes immer zu spüren.

Für die meisten Weißrussen, die nach turbulenten Geschichtserfahrungen in erster Linie an einem ruhigen und sicheren Leben interessiert waren, fühlte sich die Lukaschenko-Herrschaft lange Zeit dennoch halbwegs erträglich an. Immerhin lebte man dank des billigen russischen Gases und einer unterbundenen Oligarchisierung der Wirtschaft in Minsk lange Zeit besser als in Russland oder der Ukraine. Auf die Sauberkeit der Hauptstadt sind die Weißrussen ebenso stolz wie auf ihre gut ausgebauten Straßen.

Nach zehn Jahren Stagnation, der dreisten Wahlfälschung von letztem Sonntag und nach dem brutalen Einsatz der Sonderpolizei Omon in den letzten Tagen hat Lukaschenko in der Bevölkerung freilich jeden Kredit verspielt. Die Proteste gegen seine Herrschaft reißen nicht ab.

Polizisten quittieren Dienst

Videos zeigen, wie brutale Polizeieinsätze von einem gellenden Pfeifkonzert der Bewohner der umliegenden Plattenbauten "kommentiert" werden. Auf dem Nachrichtenkanal Telegram war zu sehen, wie Frauen Menschenketten bildeten und Autofahrer ihnen unterstützend zuhupten. Weitere rund 700 Menschen wurden verhaftet. Es gab auch einen zweiten bestätigten Todesfall: Ein junger, herzkranker Mann starb in der Stadt Gomel an der Grenze zur Ukraine in Polizeigewahrsam. Gerüchten zufolge soll es allerdings bereits sechs Todesfälle geben.

Offen bleibt, ob es Lukaschenko jetzt noch gelingen kann, diesen landesweiten Aufstand mit seinen Sicherheitskräften niederzuringen. Auf Telegram tauchen immer wieder Videos von Omon-Männern auf, die brutal auf Wehrlose einschlagen. Ein inhaftiert gewesener Wahlbeobachter gab an, dass in einer Zelle mehr als 30 Menschen sitzen. Er sei heftig geschlagen und gezwungen worden, auf den Knien die Landeshymne zu singen und sich beim Präsidenten zu entschuldigen. Selbst Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, eine langjährige Lukaschenko-Gegnerin, hatte sich eine solche Gewaltorgie nicht vorstellen können. "Der Machtapparat hat dem Volk den Krieg erklärt", sagte die 72-Jährige in einem Interview mit "Radio Free Europe". Sie forderte Lukaschenko zum Rücktritt auf.

 

Polizisten quittieren den Dienst

Es gibt freilich auch Videos, wo Männer der Sicherheitskräfte ihre Abzeichen abnehmen, ihre Uniform ausziehen und sie demonstrativ verbrennen. Ein Mann der Sondereinheit Speznas bezeichnete das, was derzeit in Belarus passiert, als "Schande", und quittierte den Dienst.

Indessen kündigte der geflohene Präsidentschaftskandidat Waleri Tsepkalo über Telegram die Gründung einer "Front zur nationalen Rettung" an. Die Opposition in Minsk ist nach der Inhaftierung und der erzwungenen Flucht ihrer Führungsfiguren ohne Kopf, die Proteste sind unkoordiniert. Einen Kompromiss beider Seiten wird es nicht geben.

Die EU berät am Freitag über mögliche neue Sanktionen gegen Minsk. Empfindliche Strafmaßnahmen stehen im Raum, sind allerdings nur dann durchsetzbar, wenn alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen. Und Ungarn hat sich bereits reserviert gezeigt: Die Beziehungen zu Minsk dürften nicht verbaut werden, sagte Außenminister Peter Szijjarto.

Was bringen EU-Sanktionen?

Die weißrussische Opposition ist traditionell Anhängerin von Sanktionen. Allerdings gibt es innerhalb der Lukaschenko-Gegner auch Gegenstimmen, wie etwa Maria Kolesnikowa, die Mitstreiterin von Lukaschenko-Gegnerin Swetlana Tichanowskaja. Sie ist der Ansicht, dass westliche Sanktionen "kein produktiver Weg" seien, um Lukaschenko zur Freilassung seiner Gegner und zu wirklich freien Wahlen zu zwingen. Nur der "Wille des Volkes" könne das bewirken, sagte Kolesnikowa dem Magazin "Cicero".