Es sind historische Tage für die Republik Belarus. Für Autokrat Alexander Lukaschenko könnten es die letzten Tage an der Macht sein. Auf den Straßen der Hauptstadt Minsk, aber auch anderer weißrussischer Städte bricht sich derzeit die Freiheit Bahn. Mehr als 100.000 Menschen strömten am Sonntagnachmittag zu einem "Freiheitsmarsch" ins Zentrum von Minsk, meist in Weiß, der Farbe von Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, oder im traditionellen weiß-rot-weiß gekleidet.
Weiß-rot-weiß waren die Farben der alten Nationalflagge mit dem "Pahonja"-Reiter des alten Litauen, die Lukaschenko abschaffen und durch eine leicht veränderte Version der Flagge der weißrussischen Sowjetrepublik ersetzen ließ. Bilder und Videos zeigen große, ebenso fröhlich-optimistische wie entschlossene Menschenmassen an einem Treffpunkt in der Nähe von Lukaschenkos Residenz. Von dort aus ging es dann in das Zentrum von Minsk auf den Prospekt der Unabhängigkeit. Maria Kolesnikowa, die Mitstreiterin von Tichanowskaja, richtet eine Botschaft an die "Silowiki", die Mitglieder der Sicherheitsdienste: "Das ist eure letzte Chance! Besiegt eure Angst, wie wir es taten!"
Tichanowskaja selbst hat am Montag ihre Bereitschaft zur Machtübernahme signalisiert. Sie sei bereit, das Land zu führen, sagte sie in einer von Litauen aus verbreiteten Videoansprache. Auch sie appellierte an die Sicherheitskräfte, die Seiten zu wechseln. Ihr früheres Verhalten werde vergeben, wenn sie dies jetzt täten.
Aufstand im ganzen Land
Der sowjetisch geprägte Lukaschenko hatte nach den Protesten gegen seinen offiziell ausgerufenen Wahlsieg auf altsowjetische Repression gesetzt. 80,1 Prozent der Stimmen soll der Autokrat, der die Wahlkommission kontrolliert, dabei errungen haben – ein Ergebnis wie immer also.
Doch diesmal lief es für den Diktator nicht wie immer: Die Bekanntgabe des Ergebnisses trieb die Menschen auf die Straßen, die brutalen Prügelorgien der Sonderpolizei Omon, die Berichte über Folter taten ihr Übriges: Lukaschenko war nicht mehr mit einem einmaligen Protest am Wahlabend, sondern mit einem Aufstand im ganzen Land konfrontiert. Dass er die Demonstranten dann noch als vom Ausland gesteuerte Schafe und als Arbeitslose und Kriminelle abqualifizierte, fachte die Wut auf den Staatschef zusätzlich an.
Lukaschenko mit "Hau ab" konfrontiert
Das zeigte sich auch am Sonntag. Autofahrer hupten den Protestierenden unterstützend zu, in den Straßenbahnen lief das Lied "Peremen" – Wandel – der russischen Rockband Kino, das der Soundtrack zum Zerfall der Sowjetunion war und nun eine Wiederauferstehung erfährt. Landesweit weiten sich auch die Streiks weiterhin aus, auch und besonders in den großen Staatsbetrieben (Weißrusslands Wirtschaft ist noch zu rund 70 Prozent verstaatlicht).
Der Protest dort ist insofern erstaunlich, als die Arbeiter bei einem Wandel und dadurch wahrscheinlichen Privatisierungen ihrer Betriebe riskieren, ihren Job zu verlieren. Auch für Montag haben Lukaschenkos Gegner zu flächendeckenden Streiks aufgerufen, die am Morgen auch bereits begonnen haben. Wieder ist eine Großkundgebung geplant, die Lukaschenko zum Aufgeben drängen soll.
Denn die Wut auf sein stagnierendes System ist mittlerweile größer als die Angst vor Jobverlust – auch und besonders in der Provinz, früher eine Hochburg des Präsidenten. In Grodno im Westen Weißrusslands etwa hörten streikende Arbeiter den Erklärungen ihrer Vorgesetzten zu, als plötzlich gefragt wurde, wer für Lukaschenko und wer für Tichanowskaja gestimmt hat: Fast die gesamte Belegschaft hob bei Tichanowskaja die Hand. Anderswo war die Lage ähnlich. Am Montagmorgen sprach Lukaschenko vor Anhängern in einem Staatsbetrieb. Nachdem er Streikenden geraten hatte, sich anderswo eine Arbeit zu suchen, schrien die versammelten Menschen: "Hau ab!".
Gehen will Lukaschenko aber nach wie vor nicht.. "Solange ihr mich nicht umbringt, wird es keine Neuwahlen geben!", sagte er laut dem Internetmedium Nastoyashchee Vremya. Am Montag zeigte sich der Autokrat aber erstmals zu Zugeständnissen bereit. Er könne sich eine Teilung der Macht vorstellen wurde Lukaschenko von der Nachrichtenagentur Belta zitiert. Es werde bereits an einer möglichen Verfassungsänderung gearbeitet. Allerdings würde nichts unter dem Druck von Protesten passieren.
Journalisten der Staatsmedien kündigen
Doch nicht nur der Straßenprotest wird Lukaschenko gefährlich. Mittlerweile springen auch Stützen des Systems ab. Prominente Journalisten der Staatsmedien kündigten ebenso wie Diplomaten. Der weißrussische Botschafter in der Slowakei, Igor Leschenja, erklärte seine Solidarität mit den Demonstranten. Lukaschenkos System bekommt Risse, möglicherweise ist es bereits am Zerbröseln.
Der wortgewaltige Staatschef, nicht als vorsichtiger Kompromissler bekannt, ging indessen in die Offensive. Am Sonntagmittag zeigte er sich vor über 10.000 seiner Anhänger auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Minsk. Wie die Opposition, so hatten auch Lukaschenkos Anhänger bereits am Vortag im Internet ihre Anhängerschaft für die sonntägliche Kundgebung zu mobilisieren versucht. Lukaschenko ließ Menschen aus dem ganzen Land nach Minsk bringen, angeblich sei Mitarbeiter von Staatsbetrieben nahegelegt worden, mitzukommen.
"Das erste Mal auf Knien vor Euch"
Der im Fernsehen sonst unangefochtene und konkurrenzlose Landesvater gab sich in seiner Rede zwar gewohnt angriffig, aber auch verletzlich: "Liebe Freunde, ich habe Euch hierher gerufen, um mich zu beschützen", sagte Lukaschenko. "Ich bin das erste Mal in meinem Leben auf Knien vor Euch." In emotionalen Worten und mit sportlich kurzen Ärmeln beschwor der Staatschef noch einmal das gemeinsam in 26 Jahren Erreichte. Er stellte seine Meriten ins Zentrum, etwa dass er eine Oligarchisierung der Wirtschaft wie etwa in Russland und der Ukraine verhindert habe, und warnte davor, dass mit seinem Abgang auch der Frieden und die ruhige Entwicklung in Gefahr seien.
Ansonsten teilte der Autokrat wieder einmal kräftig gegen seine innenpolitischen Gegner, vor allem aber auch gegen das westliche Ausland aus. Erstens habe es keine Wahlfälschungen gegeben, ein Ergebnis von über 80 Prozent könne man gar nicht fälschen. Zweitens nahm Lukaschenko das derzeitige, bereits lange geplante Nato-Militärmanöver zum Anlass, der Nato einen Truppenaufmarsch an der Westgrenze von Belarus vorzuwerfen. Panzer und Flugzeuge würden in Stellung gebracht, sagte der 65-Jährige.
"Nato vor der Tür!"
"Die Truppen der Nato stehen vor unseren Türen! Litauen, Polen und die Ukraine befehlen uns, Neuwahlen abzuhalten", schrie ein schwitzender, kämpferischer Lukaschenko in die Menge am Unabhängigkeitsplatz vor der Leninstatue. "Wenn wir uns von denen am Gängelband führen lassen, dann geraten wir ins Trudeln. Dann gehen wir als Nation zugrunde."
Lukaschenko, der sich seit längerer Zeit als Garant der belarussischen Unabhängigkeit präsentiert und als solcher im Dauerclinch mit Russlands Präsident Wladimir Putin liegt, musste in der Not wieder auf den großen Bruder im Kreml zurückgreifen. Von einer russischen Bedrohung – wie etwa durch die Soldaten der Söldnertruppe "Wagner" vor eineinhalb Wochen – ist jetzt keine Rede mehr. Der Annäherungskurs an den Westen ist erst einmal beendet: Aufgrund des harten Vorgehens gegen die Demonstranten hatte die EU am Freitag Sanktionen gegen Personen auf den Weg gebracht, die für die mutmaßliche Wahlfälschung und die Niederschlagung von Protesten verantwortlich gemacht werden.
Kommt "Hilfe" aus Russland?
Jetzt, in größter Not, sucht Lukaschenko wieder den Schulterschluss mit dem engen Verbündeten Russland. Mehr oder weniger verklausuliert appellierte der Autokrat an den Kreml, ihm jetzt Unterstützung zu gewähren. Am Samstag deutete Lukaschenko an, die Proteste könnten sich auch über Belarus hinaus ausweiten. Am Sonntag sicherte Putin Lukaschenko in einem Telefonat dann auch militärische Hilfe zu und sprach von Druck von außen auf das Land.
Darüber, ob das eine militärische Intervention Russlands im kleinen Nachbarland einschließt, wird gerätselt. An sich hält sich die Neigung Russlands, den schwierigen Lukaschenko zu stützen, in Grenzen – erst recht jetzt, wo offenbar wird, wie wenig Unterstützung er im Land noch genießt. Weißrussische Politologen rechnen daher eher nicht mit einem militärischen Eingreifen des Nachbarlandes – das wohl auch in Russland selbst bei der Bevölkerung nur mäßig populär wäre.
Militärstrategisch wichtig
Richtig ist freilich, dass Belarus für Russland schon militärstrategisch von enormer Wichtigkeit ist. Eine Neuorientierung des stark russisch geprägten Landes gen Westen - die derzeit aber, wenn überhaupt, in weiter Ferne liegt – wäre für Russland katastrophal. Die russische Exklave Kaliningrad im ehemaligen Ostpreußen wäre dann völlig isoliert – nicht nur vom russischen Mutterland, sondern auch vom militärstrategischen Verbündeten Belarus. In Russland könnte das den Ärger über den Westen weiter anheizen.