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Für Lukaschenkos Gegner tickt die Uhr

Von Gerhard Lechner

Politik
Das Sprachrohr der Opposition in Minsk: Maria Kolesnikowa.
© reuters/Vasily Fedosenko

Weißrusslands Opposition punktet bei der Bevölkerung - anders als früher - vor allem durch Einigkeit und Pragmatismus. Doch je länger sich Staatschef Alexander Lukaschenko an der Macht hält, umso schlechter sind ihre Karten.


Am vergangenen Wochenende hatte es noch so ausgesehen, als wären die Tage von Alexander Lukaschenko an der Spitze Weißrusslands bald gezählt. Nach einer Gewaltorgie der Sicherheitskräfte, nach sich immer mehr ausweitenden Protesten schien plötzlich vorstellbar, dass das Regime des Langzeitpräsidenten vor dem Ende steht. Oppositionspolitiker wie der nicht zugelassene Kandidat Waleri Tsepkalo riefen aus dem Exil zu einem Freiheitsmarsch in Minsk auf, Hunderttausende kamen.

Die Atmosphäre der Angst schien wie weggefegt. Tsepkalo sprach im Messengerdienst Telegram von einem "Finale" für das Regime. Bald, vermutlich in den kommenden ein bis zwei Tagen, würde man den Diktator zum Abgang zwingen - durch Massen auf den Straßen oder durch Streiks bei den Staatsbetrieben. Und Lukaschenko wankte tatsächlich, erklärte, dass er sich nach einer Verfassungsänderung Neuwahlen vorstellen könne - und bettelte mehr oder weniger offen um eine Intervention Russlands.

Lukaschenko droht Streikenden mit Fabrikschließungen und versetzt Armee in Alarmzustand

Aber er fiel nicht, jedenfalls noch nicht. Und das wird für die belarussische Opposition zunehmend zum Problem. Denn bei einem Spiel auf Zeit verfügt der Staatschef über Vorteile. Jeder Tag, an dem sich Lukaschenko an der Spitze hält, ist für ihn ein gewonnener Tag: Er signalisiert möglichen Überläufern aus dem Staatsapparat, dass er, der Machthaber, immer noch in Amt und Würden ist - und dass er handlungsfähig ist. Das erhöht für jene, die daran denken, die Seiten wechseln zu wollen, das Risiko.

Denn nach dem scheinbaren Einlenken beim Thema Verfassung, das in Wahrheit nur ein Spiel auf Zeit war, ging Lukaschenko wieder in die Offensive: Er zeichnete Polizeitruppen für ihren Einsatz gegen die Demonstranten aus und wies sie an, mit voller Härte gegen die Protestierenden vorzugehen. Die Streikenden in den Staatsbetrieben setzte er über die Betriebsleiter ebenso unter Druck (er droht an, die Fabriken, in denen gestreikt wird, zu schließen und die Arbeitskräfte vor die Tür zu setzen) wie die Opposition, die gerade einen Koordinierungsrat gebildet hatte, der die Machtübergabe ermöglichen soll. Gegen sie wird mittlerweile wegen des Versuchs ermittelt, die Macht im Land an sich zu reißen. Die Lukaschenko-Gegner riefen die Streitkräfte dazu auf überzulaufen - und die Arbeiter zu einem landesweiten Generalstreik. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja wird den stellvertretenden US-Außenminister Stephen Biegun treffen.

Lukaschenko hat unterdessen das Militär in Alarmzustand versetzt und mit der "Verteidigung der territorialen Integrität" des Landes beauftragt. Dafür müsse die Armee die "striktesten Maßnahmen" ergreifen, erklärte der Staatschef am Samstag. In Polen und Litauen gebe es Nato-Truppenbewegungen entlang der Grenze zu Belarus. Litauens Präsident Gitanas Nauseda wies diese Behauptung umgehend zurück.

Neue Großdemonstrationen für Sonntag geplant

Zwar ist die Chance der Opposition, Lukaschenko zum Abgang zu zwingen, ob des Unmuts in der Bevölkerung immer noch intakt. Für Sonntag sind neue Massenproteste angekündigt worden. Die Gewaltwelle hat viele schockiert und den Zorn über die Führung noch verstärkt. Die Regimegegner haben allerdings eine ganze Reihe von Problemen zu bewältigen. So gilt es etwa, Lukaschenkos Werben um Russland zu torpedieren. Führungsfigur Maria Kolesnikowa betonte, dass Russland ein wichtiger sicherheits- und wirtschaftspolitischer Partner sei -wohl auch, um Lukaschenko Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Präsident des stark russifizierten Landes versucht, die Opposition als russlandfeindlich hinzustellen. Sie wolle Verträge mit Moskau kündigen, Zölle einführen, russische Fernsehsender und die russische Sprache verbieten, der Nato beitreten und einen Krieg gegen die russisch-orthodoxe Kirche anzetteln. Es ist eine Botschaft nach innen und nach außen, Richtung Russland und in Richtung der eigenen Bevölkerung, die großteils russische Fernsehsender konsumiert. In Russland war Lukaschenkos Erfolg bisher bescheiden: Präsident Wladimir Putin forderte seinen Amtskollegen am Freitag zum Dialog mit seinem Volk auf. Der lehnte diesen ab und sagte in einer Rede, dass er das Problem mit den Protesten "in den kommenden Tagen lösen" werde.

Zerstritten und marginalisiert

Die Botschaft des Autokraten ist auch ein Versuch, die Opposition wieder zu dem zu machen, was sie jahrzehntelang war: Eine zerstrittene, marginalisierte Polit-Szene ohne Breitenwirkung, deren zum Teil nationalistische Ansichten für den Durchschnitts-Weißrussen zu radikal waren. Forderungen wie die nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Moskau, die in den 1990er Jahren von Nationalisten aufgestellt wurden, kamen bei den pragmatischen Belarussen nicht gut an. Lukaschenko gelang es freilich auch, selbst gemäßigte Oppositionelle durch Medienberichte als vom westlichen Ausland gelenkte und finanzierte Faschisten zu diffamieren. "Die Parteien, die es in den 1990er Jahren gab, hat Lukaschenko im Laufe der Jahre zerschlagen lassen", sagt der deutsche Publizist Ingo Petz.

Starker Individualismus

Das für den Normalbürger vergleichsweise milde Regime ist gegen Gegner immer hart vorgegangen. "Für die Opposition war es also unmöglich, funktionierende Strukturen aufzubauen", betont der Belarus-Experte im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Dazu kommt noch der "belarussische Individualismus", wie ihn Petz nennt - ein ausgeprägter Eigensinn, der Gemeinschaftsprojekte, und sei es auch Widerstand gegen einen Diktator, erschwert. Die Opposition gegen Lukaschenko war lange in sich befehdende Grüppchen gespalten. "Und die haben irgendwann die Fähigkeit verloren, zu einem breiteren Publikum zu sprechen. Sie konzentrierten sich nur noch auf ihr eigenes Ghetto", sagt die weißrussische Publizistin Sascha Gubskaja der "Wiener Zeitung".

Dass die gegenwärtige Opposition ganz anders agiert, auch gemeinsam auftritt, mag eines ihrer Erfolgsrezepte sein. Der inhaftierte Banker Wiktor Babariko, Lukaschenkos gefährlichster Ex-Gegenkandidat, kann schwerlich als russenfressender Faschist denunziert werden: Schließlich leitete er die Belgasprombank, die der russischen Gasprom gehört, und wurde deswegen von Lukaschenko auch bereits als Kandidat des Kremls verhöhnt.

Mangel an Erfahrung

Dieser Umstand sorgte im Wahlkampf aber auch für Misstrauen bei manchen Alt-Oppositionellen. So wird an Kolesnikowa, Babarikos Wahlkampfmanagerin oder an Führungsfigur Swetlana Tichanowskaja teils beißende Kritik geübt. Vor allem der Mangel an politischer Erfahrung der aktuellen Führungsriege der Opposition wird zum Thema gemacht.

Dieser Mangel an Erfahrung, den vor allem die Hausfrau Tichanowskaja aufweist, die durch die Verhaftung ihres Mannes zur Verlegenheitskandidatin wurde, könnte für die Opposition tatsächlich noch zum Problem werden. Denn man hat es zwar geschafft, einen Koordinierungsrat zu schaffen, der anerkannte Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur im Kampf gegen Lukaschenko vereint. Das heterogene Gremium steht aber nun vor der schwierigen Aufgabe, den Streikenden in den oft unrentablen großen Staatsbetrieben befriedigende Antworten auf die Frage zu geben, was nach einem Sturz Lukaschenkos mit ihren Arbeitsplätzen passieren wird. Fraglich ist auch, wie lange die Arbeiter durchhalten: Die meisten Weißrussen verfügen über keine großen Ersparnisse. Je länger sie streiken, umso größer der Schaden für sie selbst. Die Zeit arbeitet also für Lukaschenko - vorausgesetzt, er hat noch genug Zeit.