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Pascal Lamy: De-Globalisierung ist ineffizient und schmerzhaft

Von Thomas Seifert

Politik
Pascal Lamy beim Interview im Alpbacherhof am Rande des Europäischen Forums Alpbach.
© Thomas Seifert

Der ehemalige EU-Kommissar und WTO-Generalsekretär Pascal Lamy über das Covid-Hilfspaket, Globalisierung und die Zähmung des Marktes.


Zuletzt schrieb Pascal Lamy gemeinsam mit Nicole Gnesotto im Buch "Strange New World: Geoeconomics vs Geopolitics" über das sich verschiebende Gleichgewicht von Politik und Wirtschaft. Dieses Gleichgewicht habe sich durch Covid-19 weiter in Richtung Politik verschoben, sagt er.

"Wiener Zeitung": Wie sieht die seltsame neue Post-Covid-Welt aus?Pascal Lamy: Wir leben leider noch in einer Covid-19-Welt und noch nicht in der Post-Covid-19-Welt. Im März - als die Pandemie Europa erreichte - dachten wir, der Schock würde vielleicht sechs Monate dauern. Heute rechnet man eher mit 18 Monaten. Dennoch glaube ich nicht an einen Paradigmenwechsel oder daran, dass Covid-19 ein Wendepunkt in der Geschichte sein wird. Aber: Der Mix zwischen Geoökonomie und Geopolitik verändert sich. Lange Zeit stand die Politik im Schatten der Wirtschaft. Diese Balance verschiebt sich nun wieder in Richtung Politik. Das hat schon vor Covid-19 begonnen - denken Sie nur an den Brexit. Die britische Wirtschaft ist alles andere als begeistert über diesen Schritt und sträubt sich noch heute. Die Covid-Krise beschleunigt den Prozess, dass das Primat der Politik wiederhergestellt wird.

Kommt es zu einer De-Globalisierung?

Nein. Die Globalisierung geht weiter - aber anders als bisher. Die Infrastruktur, auf die unser Wirtschaftssystem heute basiert - nämlich moderne Transportsysteme, Informationstechnologie und Kommunikationstechnologie - hat sich ja nicht gewandelt. Auch hier gilt: Die Covid-Krise hat die Digitalisierung sogar noch weiter beschleunigt. Und mit zunehmender Digitalisierung steigt auch die Interdependenz. Globalisierung ist die Multi-Lokalisierung von Produktionssystemen von Gütern und Dienstleistungen. Damit geht eine Veränderung der relativen Preise einher. Da spielt es dann natürlich eine Rolle, wenn die Mindestlöhne in China steigen oder wenn die Staaten einen Preisaufschlag von 100 Euro pro Tonne Kohlenstoff einführen würden.

Und seit Covid-19?

Risiko wird heute höher eingepreist. Der Preis für Risiko wird zwar nach dem Ende der Krise wieder sinken, aber nicht mehr auf den Stand wie vor der Pandemie. Ich nenne das Precautionism - auf Deutsch vielleicht Vorsichtismus. Das bedeutet: Ich rechne mit einer Verkürzung von Produktions- und Wertschöpfungsketten, vor allem in politisch sensitiven Bereichen, wie etwa bei Medikamenten, medizinischen Gütern oder bei kritischen Tech-Gütern. Aber die Deglobalisierung wird nicht so heftig, wie viele heute annehmen - weil das sehr teuer wäre. Mein Credo: Globalisierung ist effizient, aber schmerzhaft. De-Globalisierung ist ineffizient und schmerzhaft. In einem Bereich sehe ich aber eine De-Globalisierungstendenz: in den Beziehungen zwischen China und den USA. Doch da geht es um weit mehr, als um wirtschaftliche Fragen.

Ein neuer Kalter Krieg zwischen China und den USA wäre für Europa freilich verheerend.

Stimmt. Aber es ist auch gleichzeitig eine Chance für den europäischen Gedanken. Denn die meisten Europäer wollen weder so leben wie die Amerikaner und so wie die Chinesen schon gar nicht. Wir Europäer haben unsere eigene Zivilisation. Europas System ist die soziale Marktwirtschaft. Die Zustimmungsraten zur Europäischen Integration sind heute wieder auf 60 Prozent angelangt, nachdem dieser Wert während der Euro Krise stark gesunken ist.



Warum ist die Zustimmung wieder gestiegen?

Dafür gibt es ein paar Verantwortliche: Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan und Xi Jinping. Und natürlich: der Brexit.

Zu Beginn der Covid-Krise hat Europa nicht wirklich an einem Strang gezogen.

Dieses Versagen war auch einer der Gründe dafür, dass Europa in der zweiten Phase - beim Europäischen Covid-Krisenbewältigungspaket - so entschlossen reagiert hat. Für Deutschland war das eine sehr rationale Entscheidung: Berlin hat verstanden, dass Deutschland in Zukunft von den europäischen Volkswirtschaften mehr abhängig sein wird. Deutschland kann in einem Europa mit einer lahmenden Wirtschaft nicht florieren. Bisher hat Deutschlands Wirtschaft in China und den USA massiv gepunktet. China ist es aber in den vergangenen Jahren immer mehr gelungen, den Mehrwert der produzierten Güter zu steigern. Somit musste China zum Beispiel immer weniger Fabrikausrüstung aus Deutschland importieren. In der derzeitigen Entwicklung werden die EU-Märkte für Deutschland also relativ bedeutsamer.

Wie wird die Stellung Europas in der Welt nach der Überwindung dieser Krise sein?

Es ist noch zu früh für eine Folgenabschätzung von Covid-19. Aber es gibt Gründe zur Annahme, dass Europa ganz gut durch diese Krise kommen wird. Das europäische System ist nämlich für die derzeitigen Herausforderungen ganz gut gerüstet: die soziale Marktwirtschaft. Die Abfederung von Risiken des Einzelnen durch die Gemeinschaft. Solidarsysteme. All das sorgt für Sicherheit und Stabilität. In einer Welt, in der Resilienz und Widerstandsfähigkeit eine größere Rolle spielen, in einem globalen kapitalistischen System, das nachhaltiger werden muss, sieht plötzlich das europäische Modell attraktiv und vorbildhaft aus. Und wenn Europa diese Krise halbwegs gut übersteht, dann steigt das Vertrauen der Bürger in Europa.

Bei der Finanzkrise war das anders.

Weil die Europäer erlebten, dass die EU vor der Explosion des amerikanischen Finanzmarktes keinen Schutz geboten hat. Die Antwort Europas war Austerität. Plus: Die EU-Kommission hat sich damals zum Schuldeneintreiber machen lassen. Das war ein schwerer politischer Fehler.

Welche politischen Entwicklungen erwarten Sie infolge der Krise?

Auch hier gilt: Covid-19 ist nicht Auslöser, sondern Beschleuniger von Entwicklungen. In der Zukunft wird das Umweltthema zum entscheidenden politischen Faktor. Immerhin ist das Sars-CoV-2-Virus eine Naturkatastrophe. In der Vergangenheit musste man die Marktkräfte aus sozialen Erwägungen zähmen, heute zugunsten der Umwelt.

Glauben Sie, dass das EU-Covid-Krisenbewältigungspaket, das geschnürt wurde, ausreicht?

Es wird darauf ankommen, wie das Paket implementiert wird. Die gute Nachricht: Europa ist diesmal Teil der Lösung, die EU hilft. Es gibt aber auch eine Gefahr: Es wäre nicht besonders schlau, das viele Geld nun mit der Gießkanne zu verteilen.

Sondern?

Man sollte sich darauf konzentrieren, den Wandel des Energiesystems in Richtung Klimaschutz und Nachhaltigkeit voranzutreiben. Zudem sollte auf die Schaffung von zukunftssicheren Arbeitsplätzen geachtet werden. Eine weitere Herausforderung: Normalerweise werden über das EU-Budget 140 Milliarden Euro verteilt. Beim Covid-19-Paket reden wir von 750 Milliarden Euro. Konjunkturprogramme auf dem Papier zu haben, ist eine Sache, das tatsächlich in die Wirtschaft zu pumpen, ist eine andere. Die gute Nachricht: Die europäische Strategie und nationale Pläne scheinen gut aufeinander abgestimmt.

Zur Person: Pascal Lamy (geboren 1947) ist ein französischer Politiker.
Er war von 1999 bis 2004 EU-Kommissar für Außenhandel. Von September 2005 bis August 2013 war er Generaldirektor der Welthandelsorganisation. Er ist Gast beim Europäischen Forum Alpbach.