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Es hat sich ausgetanzt

Von Gerhard Lechner

Politik

Die Vergiftung von Kremlkritiker Alexej Nawalny könnte zu einer Wende in der Russlandpolitik der EU-Staaten führen. In Deutschland wird heftig über das Pipelineprojekt Nord Stream 2 debattiert, und auch aus Wien kommen kritische Töne.


Möglicherweise war der Fall Alexej Nawalny jener Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das Drama rund um den vergifteten russischen Regimekritiker könnte, wie es aussieht, in den Beziehungen der EU zu Russland eine Art "Game changer" werden - ein echter Wendepunkt. Bislang hatten - vieler Bedenken vor allem osteuropäischer Staaten wie Polen zum Trotz - innerhalb der EU jene Staaten den Ton angegeben, die beim Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auf Pragmatismus setzten.

Der Umstand, dass Kreml-Kritiker wie der Politiker Boris Nemzow und die Journalistin Anna Politkowskaja ermordet wurden, änderte daran ebenso wenig wie die Vergiftung des Geheimdienst-Überläufers Sergej Skripal vor zwei Jahren in Großbritannien. Die Annexion der Krim 2014 führte zwar zu harten Sanktionen gegen Moskau, die nicht nur Russland, sondern auch die heimische Wirtschaft schädigten. Langfristig setzte sich aber immer wieder der Pragmatismus durch - jedenfalls in jenen westlichen Staaten, denen das Trauma des Sowjetkommunismus fehlt.

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel gilt im Gegensatz zu ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder zwar nicht gerade als Putin-Freundin. Am deutsch-russischen Pipelineprojekt Nord Stream 2, das von vielen EU-Staaten und den USA kritisiert wird, hielt sie dennoch fest. Staaten wie Italien, Spanien oder Frankreich traten auch immer für einen betont interessenbasierten, pragmatischen Umgang mit Russland ein. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte noch im letzten Jahr eine Initiative gestartet, die Russland und die EU-Staaten einander wieder näher bringen sollte. Schließlich wird der Gesprächskanal mit Moskau für die Lösung zahlreicher Weltprobleme, etwa in Syrien, gebraucht.

Unter den kleinen Staaten war es vor allem Österreich, das den Kontakt mit dem Kreml suchte. Die Putin-Besuche in Wien in den letzten Jahren verliefen in entspannter, fast schon amikaler Atmosphäre. International Aufsehen erregte der Umstand, dass der Kreml-Chef Gast bei der Hochzeit von Ex-Außenministerin Karin Kneissl war - und dort, in den südsteirischen Weinbergen, mit der von der FPÖ nominierten Ministerin tanzte.

Diese Zeiten dürften vorbei sein, auch aus Wien kommen jetzt andere Töne. Österreich verurteilte die Tat "sehr scharf", sie werfe ein "ganz erschreckendes Licht auf Russland", sagte Außenminister Alexander Schallenberg im Deutschlandfunk. Moskau müsse "absolute Klarheit" schaffen, die EU "eindeutig eine Drohkulisse" aufbauen, die "alle Bereiche" der Zusammenarbeit mit Russland umfassen soll.

"Partieller Einkaufsstopp"

Brüssel droht Moskau in einer Erklärung mit "geeigneten Maßnahmen", also mit Sanktionen. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, der CSU-Politiker Manfred Weber, stellte die Fertigstellung des Pipelineprojekts Nord Stream 2, an dem auch die österreichische OMV beteiligt ist, zur Disposition. "Natürlich gehört zu möglichen Sanktionen die härteste: ein partieller Einkaufsstopp bei Rohstoffen. Das Ende von Nord Stream 2 darf nicht mehr ausgeschlossen sein", sagte Weber dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel".

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Schallenberg gab sich, was ein Ende von Nord Stream 2 betrifft, zurückhaltender: Er verstehe zwar die Diskussion, wüsste aber nicht, ob ein Stopp "ein geeignetes Mittel" sei, sagte der Minister.

Mehr als hundert EU-Abgeordnete, darunter auch aus Österreich, forderten zudem eine internationale Untersuchung unter Beteiligung der Vereinten Nationen. Sie seien "äußerst skeptisch, dass die russischen Behörden in der Lage und willens sind, den wahren Hintergrund dieses Verbrechens zu untersuchen", heißt es in einem Schreiben an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft.

In Deutschland wollen nun Politiker von Union, Grünen und FDP das milliardenschwere Nord-Stream-2-Projekt auf den Prüfstand stellen. Der CDU-Politiker Friedrich Merz fordert einen Baustopp. "Ich war bisher für den Weiterbau der Pipeline, trotz einiger Bedenken. Aber nach dem Giftanschlag auf Nawalny muss Europa jetzt reagieren. Ich schlage einen sofortigen zweijährigen Baustopp, also ein Moratorium, vor", sagte Merz der "Bild" am Freitag. "Putin versteht leider nur diese Sprache."

Wirtschaftsvertreter und auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zeigten sich freilich deutlich zurückhaltender. So will SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich an der Ostsee-Gaspipeline festhalten. Eine Debatte über Nord Stream 2 allein bringe Deutschland in der Energiepolitik kein reines Gewissen, sagte er mit Blick auf andere Gas- und Ölförderstaaten wie Libyen oder Saudi-Arabien, deren Menschenrechtslage ebenfalls problematisch ist.

Wieder Wende Merkels?

Die Entscheidung, welchen Weg Deutschland einschlagen wird, wird wohl Angela Merkel treffen. Wie in der Energie- und Migrationspolitik, so könnte es auch in der Russlandpolitik zu einer aufsehenerregenden Wende der Kanzlerin kommen. Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert wollte am Freitag eine frühere Aussage der Kanzlerin, der Fall Nawalny und die Zukunft von Nord Stream 2 müssten entkoppelt gesehen werden, ausdrücklich nicht wiederholen. Eine mögliche Verknüpfung der Aufklärung des Anschlags auf Nawalny mit dem Pipelineprojekt ist nicht ausgeschlossen.

Zumindest verbal rudert man in Moskau mittlerweile zurück: Ein Sprecher des Präsidialamts sagte, man wolle einen Dialog mit Deutschland. Ziel sei es herauszufinden, welche Substanz genau zu Nawalnys Erkrankung geführt habe. Heimische Spezialisten würden die Angelegenheit prüfen.