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Karoline Edtstadler: "Bleiberecht darf nicht erzwungen werden"

Von Michael Schmölzer

Politik

Die Europaministerin über Perspektiven der EU-Flüchtlingspolitik und den richtigen Umgang mit Ungarn.


"Europa, Solidarität und Frieden" war das Thema des vom Institut der Regionen Europas veranstalteten 16. Salzburg Europe Summit. Debattiert wurde in erster Linie der Umgang und die politischen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise. Teilgenommen haben unter anderen Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP), die ungarische Justizministerin Judit Varga und ihre slowakische Amtskollegin Maria Kolikova. Die "Wiener Zeitung" hat mit Edtstadler über den neuen Vorschlag der EU-Kommission zur Reform des Asylwesens gesprochen.

Wiener Zeitung: Der Vorschlag der EU-Kommission für ein neues Migrationspaket liegt vor, jahrelang waren die Verhandlungen festgefahren. Kommt jetzt Ihrer Meinung nach etwas entscheidend in Bewegung?

Karoline Edtstadler: Ich bin sehr froh, dass die Kommission dieses Migrationspaket jetzt vorgelegt hat. Es sollte ja ursprünglich schon im Frühjahr ein Vorschlag auf den Tisch gebracht werden, nachdem die zuständigen Kommissare Margaritis Schinas und Ylva Johansson durch alle Mitgliedsstaaten gereist sind und sich angehört haben, wo die großen Sorgen sind, wo die roten Linien liegen. Nach einem ersten Blick auf dieses 200-Seiten-Konvolut und das insgesamt neun Rechtsakte umfassende Paket geht aus österreichischer Sicht vieles in die richtige Richtung. Zum Beispiel, wenn es darum geht, einen verstärkten Außengrenzschutz zu etablieren, wenn es um die Hilfe vor Ort geht, die Kooperation mit den Drittstaaten, gerade was die Rückübernahmeabkommen betrifft. Allerdings muss man auch sagen, dass hier etwas enthalten ist, was sich "return sponsorship" nennt. Und da muss man sich schon genau anschauen, was darunter zu verstehen ist.

In der deutschen Übersetzung des EU-Textes spricht man von "Rückführungspatenschaft". Wenn Österreich das übernehmen würde: Wären wir dann mit Beamten an der griechisch-türkischen Grenze, würden abgelehnte Asylwerber "rücküberstellen" und wäre Österreich dann auch verantwortlich dafür, was mit den Menschen weiter passiert?

Das ist genau der Punkt. Da werden wir diskutieren müssen, was darunter zu verstehen ist. Was es aus österreichischer Sicht nicht geben darf, wo wir auch nicht zustimmen werden, ist eine zwangsweise Verteilung von Flüchtlingen über Europa. Das war schon in dem Paket enthalten, das nicht zu einer Einigung geführt hat. Das wir seit 2016 verhandelt haben. Wir wollen keine Verteilung von Flüchtlingen über Europa, das ist unsere rote Linie. Wir wollen das auch nicht durch die Hintertüre, durch eine "return sponsorship", wo man dann die Verantwortung dafür übernehmen müsste. Die Frage ist: Was passiert, wenn die Rückführungen nicht stattfinden können? Es darf dieses Bleiberecht nicht erzwungen werden indem man verhindert, dass man zurückgeschoben werden kann. Da müssen wir schon noch im Detail darüber sprechen.

Wenn eine Rückführung nicht möglich ist, müsste Österreich dann Asylwerber aufnehmen?

Das wollen wir verhindern, denn auch dann wäre die Frage der Binnenmigration nicht gelöst. Es gibt einfach Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Wobei wir immer gefordert haben, dass es eine flexible Solidarität geben muss. Das heißt, man ist nicht nur solidarisch, wenn man Flüchtlinge aufnimmt – abgesehen davon war Österreich das. Wir haben seit dem Jahr 2015 200.000 Asylanträge abgearbeitet. Es muss eine andere Form der Solidarität geben. Etwa in Form von Hilfe vor Ort, Hilfe für die Behörden, damit die Prozesse schneller voran gehen.

Der österreichischen Regierung war ja immer wichtig, das Schlepperunwesen in den Griff zu bekommen und zu verhindern, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken. Sehen Sie durch den neuen Vorschlag der Kommission einen möglichen Fortschritt?

Österreich hat immer gesagt, wir wollen die illegale Migration beenden. Und wir wollen das Schlepperwesen beenden, indem man das Geschäftsmodell zerschlägt. Die Rettung, etwa im Mittelmeer, darf nicht das Ticket nach Europa sein. Was wir während der Phase des Lockdowns in Europa wieder einmal gesehen haben ist, dass Kommunikation ein ganz wesentlicher Faktor bei der Migrationspolitik ist. Wenn sich herumspricht, dass man nicht in Österreich bleiben kann, wenn es keinen Asylgrund gibt und es auch nichts nützt, wenn man sich illegal auf den Weg macht, dann hat das eine Signalwirkung. Dann werden sich weniger auf den Weg machen. Die Botschaft lautet: Wenn es keinen Asylgrund gibt, gibt es auch kein Aufenthaltsrecht in Europa. All das spielt zusammen. Deshalb habe ich das Paket der EU-Kommission ungeduldig erwartet, damit die Botschaft Europas in die Welt gesendet wird. Natürlich muss es ein gemeinsames europäisches Asylsystem geben, um denen, die einen Asylgrund haben, zu helfen.

Sie sagen, dass die Migrationsfrage in Europa nur gemeinsam gelöst werden kann. Haben Sie das Gefühl, dass Länder wie etwa Ungarn auch der Überzeugung sind, dass dem so ist?

Ich war am vergangenen Freitag in Budapest und habe dort Justizministerin Judit Varga und auch Außenminister Peter Szijjarto getroffen. Dabei habe ich mit ihnen genau darüber gesprochen, dass wir ein gemeinsames europäisches Asylsystem brauchen. Ich habe den Eindruck, dass man das auch in Ungarn so sieht und dass man bereit ist, darüber zu verhandeln. Was Österreich und Ungarn eint, ist die Momentaufnahme, dass es einen Systemwechsel braucht in der europäischen Asylpolitik. Österreich hat schon sehr viele Flüchtlinge aufgenommen und wir haben große Herausforderungen im Bereich der Integration. Auch Ungarn ist ein Land, das sagt, wir unterstützen in anderer Form, aber wir wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Die Lehre nach den gescheiterten Verhandlungen über das europäische Asylsystem der letzten Jahre ist, dass man über einzelne Mitgliedsstaaten nicht einfach drüberfahren darf. Wir müssen uns mit den Gegebenheiten vor Ort auseinandersetzen. Und wir müssen uns vor Augen halten: Die Flüchtlinge wollen nicht in jedes Land der Europäischen Union. Schon deshalb ist die Verteilungsdebatte sinnlos.

Zuletzt ist das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos abgebrannt und Österreich ist ziemlich stark unter Druck gekommen, wenigstens ein paar Kinder aufzunehmen. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer hat gesagt, er sei "traurig", dass Österreich hier gar nicht mitmacht. Gibt es nicht doch Einzelfälle, wo man helfen muss. Gibt es nicht eine moralische Verpflichtung?

Genau das haben wir im Fall von Moria getan. Schon in der folgenden Woche ist der österreichische Innenminister Karl Nehammer mit Tonnen von Hilfsgütern nach Griechenland geflogen, um dorthin 400 Unterkünfte für 2000 Menschen zu bringen. Das ist Hilfe, die wirkt. Da soll niemand von Österreich enttäuscht sein, sondern sich ansehen, was Österreich in den letzten Jahren geleistet hat. Österreich hat die zweitmeisten Flüchtlinge in ganz Europa aufgenommen. Und wir haben, was die Integration betrifft, hier nach wie vor große Herausforderungen. Wenn über 50 Prozent der Pflichtschüler und Pflichtschülerinnen in Wien nicht mehr Deutsch als Umgangssprache haben, dann ist das eine entsprechende Herausforderung für das Schulsystem. Darüber müssen wir sprechen. Man übernimmt ja auch Verantwortung, wenn man 100 Kinder aufnimmt. Damit ist es ja nicht getan. Diese Kinder haben Verwandte, wo es dann einen Nachzug gibt. Dann muss man prüfen, ob es einen Asylgrund gibt. Damit ist viel mehr verbunden als nur die Aufnahme. Deshalb haben wir entschieden, vor Ort zu helfen. Und zwar in der Sekunde, wo das passiert ist.

Die Verhandlungen über den neuen Migrationspakt haben noch nicht begonnen und man hat das Gefühl, dass sich viele Länder schon in ihren alten Standpunkten einzementiert haben. Woher soll der Schwung kommen, von dem Sie ausgehen?

Man sieht bei der Covid-Krise, dass der Migrationsfluss zum Erliegen gekommen ist. Und ich denke, dieses Momentum sollte impulsgebend dafür sein, dass man jetzt ein europäisches Asylsystem ausverhandelt. Es starten die Verhandlungen mit 27 Staaten und manche haben die gleichen Ansichten. Wenn sich mehrere Staaten zusammentun, die eine Meinung vertreten, dann  ist es leichter, eine Lösung zu finden. Der Diskussion muss man sich stellen, das ist unser Europa.

Jetzt soll der Druck auf Ungarn und Polen erhöht werden. Zahlungen gibt es nur, wenn Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit eingehalten werden. Halten Sie das für einen guten Ansatz? Immerhin kennt Österreich selbst EU-Sanktionen aus der Vergangenheit.

Ungarn und Polen sind in der Mitte eines Artikel 7-Verfahrens (die EU sieht Prinzipien des Rechtsstaates gefährdet, Anm.), im Fall von Ungarn durch das Europäische Parlament, im Fall von Polen durch die EU-Kommission. Ein Artikel 7-Verfahren soll sich nicht über Jahre hinziehen. Es sollte die Bestrebung von Ungarn und Polen sein, aus diesem Artikel 7-Verfahren wieder herauszukommen. Und ich halte es für wesentlich, dass man im Europäischen Rat darüber spricht, wie das gelingen kann. Zu einer Konditionalität zwischen mehrjährigem Finanzrahmen und Rechtsstaatlichkeit: Das ist ein Prinzip, das ich immer begrüßt habe. Das könnte jeden treffen. Eine Europäische Union, die Grundwerte hat: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte, muss auch Mechanismen haben, um für die Einhaltung dieser Prinzipien zu sorgen. Ungarn möchte hier möglichst objektive Messkriterien, das verstehe ich.

Man bekommt aber den Eindruck, dass sich Ungarn in erster Linie ungerecht behandelt fühlt.

Hier sind viele Emotionen im Spiel, ich kann das im Fall Ungarn nachvollziehen, weil es das erste Mal war, dass ein Artikel 7-Verfahren vom EU-Parlament eröffnet worden ist. Ich war selbst Zeugin, als das im Europäischen Parlament abgestimmt worden ist. Das war während der österreichischen Ratspräsidentschaft, ich durfte Österreich im Parlament vertreten. Es ist von der Berichterstatterin bejubelt worden, dass man jetzt dieses Verfahren eröffnet. Ich glaube, das ist der falsche Zugang. Ich war selbst Richterin. Ein Gerichtsverfahren ist eine Sache, die objektiv abzulaufen hat. Da gibt es Rechte, die jeder hat -  egal, ob er Beschuldigter ist oder nicht.

Also wurde Ungarn an den Pranger gestellt?

Es hat einen Mangel an Objektivität gegeben im Europäischen Parlament. Das ist der Grund, warum die Emotionen so hochgehen. Wenn man jemanden ins Eck drängt dann erreicht man nicht, dass der sich konstruktiv an einen Tisch setzt. Deshalb bin ich immer dafür eingetreten, dass wir im Diskurs bleiben. Wir müssen einen Weg mit und für Ungarn und Polen finden.

Italien will im Zusammenhang mit dem neuen Migrationspakt bei Verstößen auch einen Strafmechanismus. Dem würden Sie sich anschließen?

So weit sind wir noch nicht. Wir müssen zunächst klären, was unter verpflichtender Solidarität gemeint ist. Wenn jeder Mitgliedstaat anerkennt, dass er einen Beitrag leisten muss, brauchen wir keinen Sanktionsmechanismus. Vielleicht schaffen wir es über Einbeziehung und nicht über Sanktionen.

Zur Covid-Krise: Schweden hat hier einen zunächst viel kritisierten liberalen Ansatz und zum Beispiel die Schulen nicht geschlossen. Der schwedische EU-Minister Hans Dahlgren hat jetzt berichtet, dass die Infektionszahlen zurückgehen. Gleichzeitig sehen wir in Frankreich, Großbritannien und Deutschland Proteste, weil die Maßnahmen als zu strikt empfunden werden. Hat der liberalere Ansatz auf lange Sicht doch seine Berechtigung?

Der schwedische Weg ist innerhalb Europas sicherlich einzigartig gewesen. Lange Zeit hat man gesehen, dass die Probleme nicht kleiner waren, vor allem die wirtschaftlichen, und die Totenzahlen sehr viel höher sind als in vielen anderen Staaten Europas. Ich war Strafrichterin: Ich habe in meinem bisherigen Leben schon erfahren, dass ohne die Androhung von Sanktionen die Menschen weniger geneigt sind, sich an Regeln zu halten.

Unter Umständen sind die Schweden da anders?

Wie man sieht, ist es dort am Anfang auch nicht so einfach gewesen. Ich glaube, unser aller Interesse muss sein, das Virus so gut wie möglich einzudämmen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns europaweit besser koordinieren. Dass es Empfehlungen von europäischer Seite gibt, wie man etwa Reisewarnungen besser kommuniziert, wie man unter den Mitgliedstaaten Vertrauen schafft, was die eigenen Maßnahmen betrifft. Das sollten wir jetzt angehen.